Der Soziologe Hartmut Rosa zählt zu den bekanntesten Gesellschaftsdiagnostikern im deutschsprachigen Raum. Seine Analysen über Beschleunigung, Resonanz und den Verlust von Selbstwirksamkeit haben auch für die berufliche Bildung hohe Relevanz. In einem Interview mit dem österreichischen Standard (24.10.2025) beschreibt Rosa den Wandel vom Handeln zum Vollziehen: Immer mehr Tätigkeiten werden durch standardisierte Abläufe, technische Systeme oder bürokratische Vorgaben bestimmt. Menschen werden zu Vollzugsakteuren, die Anweisungen befolgen, anstatt selbstbestimmt zu handeln.
Diese Diagnose trifft den Kern einer zentralen Bildungsaufgabe nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG): Die Entwicklung der beruflichen Handlungsfähigkeit (§ 1 Abs. 3 BBiG). Denn Ausbildung zielt nicht auf das regelkonforme Abarbeiten, sondern auf das reflektierte, verantwortliche und kooperative Handeln in komplexen Situationen. Rosas Kritik an der Vollzugslogik verweist somit auf eine Herausforderung, die sich im betrieblichen Alltag längst zeigt – etwa, wenn Fachkräfte und Auszubildende zunehmend auf Checklisten, Prozessvorgaben oder algorithmische Systeme reduziert werden.\n\nDas Berufsbildungsgesetz stellt in § 1 Abs. 3 klar: Ziel der Berufsausbildung ist die Vermittlung der beruflichen Handlungsfähigkeit. Diese umfasst die Bereitschaft und Fähigkeit, in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen selbstständig, planvoll und verantwortlich zu handeln. Damit steht die Ausbildungsidee im direkten Gegensatz zu einer bloßen Vollzugslogik, wie sie Rosa beschreibt.
Rosa unterscheidet zwischen Handeln – dem bewussten, situationsbezogenen Eingreifen mit Urteilskraft, Erfahrung und moralischer Verantwortung – und Vollziehen, dem reinen Befolgen von Vorschriften, Checklisten oder algorithmischen Abläufen. In vielen Bereichen, so Rosa, seien Beschäftigte heute nur noch Vollzieher:innen vorgegebener Prozesse. Genau hier liegt die bildungspolitische Sprengkraft seiner Analyse für die berufliche Bildung.
Die §§ 3 ff. BBiG betonen, dass Ausbildungsordnungen berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln müssen, die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendig sind. § 5 BBiG verweist darauf, dass die Ausbildung zur selbstständigen Planung, Durchführung und Kontrolle der Arbeit befähigen soll. § 36 BBiG konkretisiert mit der Abschlussprüfung, dass Auszubildende ihre berufliche Handlungsfähigkeit nachweisen müssen – nicht durch bloßes Befolgen, sondern durch eigenständiges Bewältigen realer beruflicher Aufgaben.
Ziel der Berufsausbildung ist die Vermittlung beruflicher Handlungsfähigkeit;
Ausbildungsordnungen müssen festlegen, dass Auszubildende selbstständig planen, durchführen und kontrollieren können;
Ausbildende müssen die für das Ausbildungsziel erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnisse vermitteln;
Die Abschlussprüfung stellt fest, ob die Auszubildenden die berufliche Handlungsfähigkeit erworben haben.
Rosas Diagnose lässt sich somit als soziologische Spiegelung des Normziels des BBiG verstehen. Während er den Verlust von Spielräumen beklagt, formuliert das Gesetz die Notwendigkeit, genau diese Spielräume auszubilden: Urteilskraft, Verantwortung und das situative Abwägen im Spannungsfeld zwischen Vorschrift, Erfahrung und Gewissen. Handlungsfähigkeit bedeutet, Vorschriften nicht blind zu befolgen, sondern sie im Kontext des Arbeitsauftrags und des Kunden- oder Gesellschaftsinteresses sinnvoll anzuwenden.
Das schließt ausdrücklich die Fähigkeit ein, Widersprüche zu erkennen, Alternativen zu entwickeln und im Rahmen der rechtlichen Vorgaben eigene Entscheidungen zu treffen. In diesem Sinne ist die Berufsausbildung ein Ort, an dem Handeln im Sinne Rosas eingeübt werden soll – nicht nur technisch, sondern auch moralisch und sozial.
Rosas Forderung, sich gelegentlich mit Augenmaß über Vorschriften hinwegzusetzen, lässt sich im berufsbildungspolitischen Rahmen als Appell verstehen, pädagogische und betriebliche Lernräume offen zu halten, in denen Erfahrungslernen, situative Beurteilung und gemeinsames Problemlösen möglich bleiben. Eine Ausbildung, die sich auf das Abhaken von Standards reduziert, gefährdet die Entwicklung genau jener Urteilskraft, die § 36 BBiG als Prüfungsziel verlangt.
Handeln bedeutet: Situationen verstehen, reflektieren, Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen; Vollziehen bedeutet: Vorschriften ausführen, Checklisten abhaken, Prozesse wiederholen; Berufliche Bildung soll Handeln ermöglichen, nicht nur Vollzug sichern.
Gerade im Kontext der Digitalisierung und KI-Nutzung, auf die Rosa ebenfalls verweist, ist die Rückeroberung solcher Handlungsspielräume eine Kernaufgabe der beruflichen Bildung. KI kann Routineaufgaben übernehmen, doch sie darf nicht die menschliche Urteilskraft verdrängen. Betriebliche Ausbildung muss deshalb Lernarrangements schaffen, die nicht das Befolgen, sondern das sinnvolle Entscheiden fördern.
Damit erfüllt Rosas Kritik eine doppelte Funktion: Sie ist gesellschaftsdiagnostisch, weil sie auf den strukturellen Verlust an Handlungsräumen hinweist, und bildungspolitisch, weil sie die Notwendigkeit bekräftigt, diese Räume in der beruflichen Bildung zu schützen und zu erweitern. Der Gesetzgeber hat dies im BBiG angelegt – aber die Umsetzung im Alltag bleibt eine ständige pädagogische Herausforderung. Es geht darum, die Balance zwischen Verlässlichkeit und Freiheit, zwischen Regelbindung und Urteilskraft herzustellen. Handlungsfähigkeit ist also nicht Regelbruch, sondern reflektierte Regelanwendung – und wo nötig, begründete Regelabweichung im Sinne verantwortlichen Berufshandelns.