Klavierbauerin
Birgit feilt an den feinen Tönen
Von Christoph Böckmann
Alles geht in Windeseile. Birgit Kaulitz legt das daumenförmige Holzstück unter die
Bohrmaschine und zieht an deren Hebel wie an einem einarmigen Banditen. Der Bohrkopf senkt sich, Späne fliegen, dann fährt der Bohrer wieder hoch. Die Metallerin nimmt das Teil heraus und setzt das nächste ein. Insgesamt 88-mal bohrt Birgit, zwischendurch justiert sie die Bohranlage neu. Auf der zugehörigen Anzeige stehen Gradzahlen, am linken Ende der Skala »Diskant«, am rechten »Bass«. »88 Töne, heißt 88 Hammerköpfe. Je nachdem wo sie im Flügel sitzen, muss ich sie in einem anderen Winkel bohren«, erklärt die 60-jährige Klavierbauerin.
Birgit steht im vierten Stock eines 100 Jahre alten Klinkerbaus. Mitten in Hamburg-Altona, zwischen Volksparkstadion und dem Schanzenviertel, feilen rund 450 Beschäftigte beim Flügelhersteller Steinway & Sons an den feinen Tönen. Birgit feilt schon seit 40 Jahren. Als die Metallerin 1984 bei dem deutsch-amerikanischen Traditionsunternehmen anfing, war sie Pionierin. »Vor mir hatte erst eine Frau die Ausbildung als Klavierbauerin absolviert. Bis dahin arbeiteten Frauen bei Steinway nur in der Verwaltung.« Birgit hat sich jedoch bewusst für die Werkbank entschieden. »Als Handwerkerin siehst du, was du gemacht hast.« Das gefällt der Metallerin.
Birgit kämpft für die Knochen der Kollegen
Birgit rührt jetzt mit einem kleinen Rundholz, das die Norddeutsche »Sticken« nennt, im
Heißleim. Der Topf sieht aus wie ein offener Wasserkocher und ist an eine Steckdose
angeschlossen. Sie beobachtet, wie der Leim honigartig vom Sticken tropft. »Der Leim soll sein, wie er sein soll, nicht zu fest, nicht zu flüssig«, lacht die Metallerin und beginnt, Hammerköpfe an Hammerstiele zu leimen, die sie zuvor an einem Messinggestell befestigt hat. »Das ist die Mechanik des Flügels. Die Hammerköpfe schlagen die Saiten im Flügel an«, erklärt Birgit. Aus dem Radio kreischt Steven Tyler, der Sänger der Band Aerosmith.
»Eigentlich ist Freitag Schlagertag«, klärt Birgit auf. »Aber der Kollege, der das entschieden hat, ist heute nicht da.« Birgit und die anderen Kollegen sind nicht traurig, dass diese Tradition heute ausfällt.
Klavierspielen kann Birgit nicht. »Ich hatte mir das während der Ausbildung überlegt, hab aber in einer WG gewohnt, da wäre das nicht so gut gekommen. Außerdem wusste ich, dass ich nicht dafür brenne.« Birgit brennt für ihr Handwerk und dafür, sich einzusetzen. Seit der Ausbildung ist sie Gewerkschaftsmitglied, seit Anfang der 90er-Jahre Betriebsrätin. Besonders der Arbeits- und Gesundheitsschutz sind ihr wichtig. »Wenn du ein Leben lang die gleichen Aufgaben machst, sind am Ende deine Knochen und Gelenke kaputt, wenn du nicht aufpasst«, weiß die Metallerin. Um die Kolleginnen und Kollegen zu schützen, sorgt sie gemeinsam mit den anderen Betriebsrätinnen und Betriebsräten bei Steinway dafür, dass die Arbeitsplätze ergonomisch werden. »Wir haben zum Beispiel mittlerweile schon einige höhenverstellbare Werkbänke«, erklärt Birgit.
Von »Gänsehaut« und vom »schönsten Moment« spricht die Metallerin, wenn sie an die letzte Tarifrunde Holz und Kunststoff denkt. Das erste Mal seit 50 Jahren waren sie bei Steinway im Warnstreik. »Wir hatten einige Tage davor eine aktive Mittagspause geplant. Um 11 Uhr hat es angefangen zu hageln, um 12 Uhr war es auf dem Hof spiegelglatt. Ich dachte, da kommt keiner raus. Aber es kamen alle«, erinnert sich die Metallerin. »Da war klar, die Leute haben die Schnauze voll und wollen vors Tor. Und das haben wir dann gemacht.« Ergebnis: eine ordentliche Erhöhung und eine Inflationsausgleichsprämie. Birgit war Teil der Tarifkommission und weiß: »So zähe Verhandlungen habe ich noch nie erlebt. Wenn wir nicht alle vorm Tor gewesen wären, hätten wir nie so ein gutes Ergebnis erzielt.« Birgit ist eine, die kämpft, die sich einsetzt, Birgit ist Metallerin, Birgit ist eine von uns, eine von 2,1 Millionen.