Mehr Interesse – weniger Mitbestimmung
Die vielleicht überraschendste Nachricht: Das politische Interesse unter jungen Menschen ist so hoch wie seit den 1980er-Jahren nicht. Das Bild der „unpolitischen Generation TikTok“ wird durch die Studie klar widerlegt. Viele Jugendliche interessieren sich für Demokratie, engagieren sich im Alltag, setzen sich mit gesellschaftlichen Themen auseinander.
Doch dem wachsenden Interesse steht ein strukturelles Defizit gegenüber: Mitbestimmung wird kaum erlebt. Nur rund ein Drittel der Jugendlichen fühlt sich in Ausbildung, Studium oder Schule demokratisch beteiligt.
„Zehn Jahre Schulpflicht – und keine Mitbestimmung? Das ist das Gegenteil von Demokratieerfahrung“, so Ingo Leven.
Zukunft? Beginnt heute – nicht nach der Ausbildung
Für junge Menschen ist Zukunft kein abstrakter Begriff mehr. Sie denken nicht in Jahrzehnten, sondern in realistischen Etappen. „Zukunft beginnt im Hier und Jetzt“, sagt Leven. Wer heute in der Ausbildung steht, hat klare Erwartungen an Arbeitsbedingungen, gesellschaftliches Klima und politische Teilhabe.
Gleichzeitig verschiebt sich die emotionale Agenda. Der Klimawandel bleibt präsent, aber akute Sorgen wie Krieg und Armut rücken in den Vordergrund. Das zeigt: Jugendliche differenzieren – und wissen, dass Herausforderungen parallel existieren.
Soziale Herkunft prägt Haltung – und politische Richtung
Die Studie macht erneut sichtbar, was viele verdrängen: Die soziale Herkunft entscheidet in Deutschland nach wie vor maßgeblich über Teilhabechancen. Besonders betroffen sind junge Männer aus benachteiligten Verhältnissen – sie neigen deutlich häufiger zu autoritären oder rechten Einstellungen.
„Es gelingt uns nicht, junge Menschen aus einfachen sozialen Verhältnissen so in die Gesellschaft einzubinden, dass sie sich repräsentiert fühlen“, so Leven.
Dieser Befund ist kein Naturgesetz, sondern Ausdruck eines strukturellen Versagens – und ein klarer Handlungsauftrag für Betriebe und Berufsschulen.
Zwischen Vertrauen und Kontrollverlust: Wie Jugendliche Staat und Gesellschaft sehen
Die Shell Jugendstudie zeigt eine doppelte Realität: Eine breite Mehrheit junger Menschen empfindet Deutschland als grundsätzlich gerecht und fortschrittsoffen – gleichzeitig erleben viele Kontrollverlust. Nicht selten durch die eigene Lebensrealität, aber auch durch Erfahrungen aus der Pandemiezeit oder durch wahrgenommene staatliche Untätigkeit bei wichtigen Themen.
Leven spricht hier von einer „gleichzeitigen Erwartung und Enttäuschung“ gegenüber Staat und Institutionen. Dieses Spannungsfeld prägt auch das Verhältnis zu Demokratie.
Engagiert, aber nicht gebunden: Wie junge Menschen sich einbringen
Die Studie belegt: Engagement findet statt – aber zunehmend außerhalb traditioneller Strukturen. Parteien, Kirchen und auch Gewerkschaften verlieren an Bindungskraft. Viele Jugendliche engagieren sich in lokalen Initiativen, Umweltprojekten, an der Schule oder Hochschule.
Institutionen müssen sich also fragen: Wie erreichen wir junge Menschen – ohne sie vereinnahmen zu wollen?
„Die Jugendlichen sind da. Sie bringen sich ein. Aber sie erwarten, dass wir auf sie zugehen.“
Digitale Medien: Vertrauen bleibt bei klassischen Quellen
Trotz omnipräsenter Social-Media-Nutzung: Jugendliche differenzieren klar, welchen Informationen sie vertrauen. Die Studie zeigt: Klassische Medien genießen nach wie vor hohes Vertrauen – Social Media spielt eine größere Rolle in der Unterhaltung und Kommunikation, weniger bei politischer Information.
Auch beim Thema Künstliche Intelligenz und digitale Bildung formulieren Jugendliche klare Erwartungen: Sie wollen Orientierung, Einordnung – und Begleitung in Schule und Betrieb.
Was bleibt? Die große Verantwortung – und die noch größere Chance
Die Shell Jugendstudie 2024 zeigt: Junge Menschen sind nicht desinteressiert, nicht bequem, nicht extrem – sie sind wach, differenziert und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber sie erwarten auch, dass man ihnen Räume dafür gibt.
Ingo Leven hat es auf den Punkt gebracht:
„Wir müssen jungen Menschen wieder beibringen, dass Scheitern erlaubt ist. Dass Lebenswege nicht gerade verlaufen müssen. Dass Zukunft nicht irgendwann beginnt – sondern jetzt.“
Und genau das ist der Auftrag für alle, die Ausbildung gestalten: Räume für Mitbestimmung schaffen. Mut machen, statt Druck. Zukunft nicht verwalten, sondern ermöglichen.