Vom Grundsatz her ist der Prüfungsausschuss ein autarkes Gremium, das die Gesamtergebnisse der Prüfungen verantwortet und die Entscheidungen über Bestehen oder Nichtbestehen auf der Grundlage der geltenden Rechtsnormen trifft. Dennoch gibt es eine starke Allianz von zuständigen Stellen und deren Einrichtungen zur Entwicklung zentraler schriftlicher Prüfungsaufgaben, die den Prüfungsausschüssen die Verantwortung für einen wesentlichen Teil der Prüfungsgestaltung abnehmen. Dafür gibt es auch eine Reihe von rationalen Gründen:
- An schriftliche Prüfungsaufgaben werden höchste Qualitätsmaßstäbe gesetzt, Fehler sind in einer Prüfungssituation kaum zu korrigieren.
- Die Entwicklung schriftlicher Prüfungsaufgaben ist außerordentlich aufwändig und wäre in der Breite von der Vielzahl ehrenamtlicher Ausschüsse nicht zu stemmen.
- Die zentrale Entwicklung von schriftlichen Prüfungsaufgaben ist ein Gebot der Ökonomie.
- Zentral erarbeitete und eingesetzte Prüfungsaufgaben sichern gleiche Anforderungen und Bedingungen für alle Prüfungsteilnehmer.
Es bleibt aber zu fragen, ob nicht auch wesentliche Gegenargumente die aktuelle Praxis in weniger gutem Licht erscheinen lassen. Immerhin setzt sich in fast allen Berufen die Abschlussnote zu einem großen Prozentsatz aus den Prüfungsbereichen mit schriftlichen Aufgaben zusammen.
(Beispiele / Diagramm siehe unten)
Zentraler Prüfungsgegenstand im beruflichen Bildungssystem ist die berufliche Handlungsfähigkeit. In dieser Aussage stimmen Berufsbildungsgesetz und Handwerksordnung wortgleich überein. Es handelt sich also um einen weitreichenden Konsens. Auch in den einzelnen Ausbildungsordnungen werden die Prüfungsanforderungen stets mit Aussagen der Art: "Im Prüfungsbereich X soll der Prüfling zeigen, dass er ... kann," was sich ausnahmslos auf berufstypische Tätigkeiten bezieht. Die interaktiven Prüfungsinstrumente stellen Prüfunssituationen her, in denen diese Tätigkeiten direkt oder im Vorfeld ausgeführt, dokumentiert und/oder beobachtet bzw. hinterfragt werden.
Inwiefern können auch schriftliche Aufgaben die berufliche Handlungsfähigkeit prüfen? Viele berufliche Arbeitsaufgaben gehen mit schriftlichen Arbeiten einher, gerade in kaufmännischen Berufen. Was eine isolierte schriftliche Prüfungsaufgabe von einer schriftlich zu bearbeitenden Arbeitsaufgabe unterscheidet, sind folgende Aspekte:
- Einer schriftlichen Prüfungsaufgabe fehlt der "natürliche" betriebliche Handlungszusammenhang. Zwar sind diese Aufgaben seit einiger Zeit in Modellunternehmen angesiedelt, aber nicht wenige Handlungssituationen sind extrem reduziert oder gar als Pseudosituationen zu kennzeichnen.
- Der Zugriff auf berufstypische Arbeits- und Organisationsmittel ist nicht möglich bzw. eingeschränkt.
- Eine zunehmende Zahl beruflicher Arbeitsaufgaben erfordern Teamarbeit oder die Kommunikation in Arbeits- und Geschäftsprozessen, was schwerlich in schriftlichen Aufgaben konstruierbar ist.
Und ein weiterer Fakt sollte zu denken geben: Warum sind nicht nur in beruflichen Schulen, sondern auch in betrieblichen Ausbildungsabteilungen Paukkurse für die Abschlussprüfung üblich? Warum sind Prüfungskataloge und Aufgabensammlungen älterer Prüfungen so populär? Weil nur so die berufliche Handlungskompetenz erworben werden kann, also nur so ausgeglichen werden kann, was in drei oder mehr Jahren der Ausbildung nicht gelungen ist? Das ist doch absurd. Handlungskompetenz kann man nicht pauken. Sie kann nur durch begleitetes, reflektiertes Handeln in einem Prozess mit zunehmend verantwortungsvollen und eigenständig bzw. im Team bewältigten Lern- und Arbeitsaufgaben entstehen - idealerweise direkt in betrieblichen Arbeits- und Geschäftsprozessen; wo das nicht möglich ist, in lernförderlichen, mit berufstypischen Arbeits- und Organisationsmitteln ausgestatteten Simulationsumgebungen. Schriftliche Prüfungsaufgaben haben also in der Tat ein ungelöstes Problem mit der beruflichen Handlungskompetenz.