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Interview mit der Bildungsforscherin Karin Büchter

Die Bedeutung der Berufsschulen wird häufig unterschätzt - der Bund muss mehr Verantwortung übernehmen

03.04.2018 Ι Sind Berufsschulen in erster Linie Anhängsel der Ausbildungsbetriebe? Prof. Dr. Karin Büchter von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg sagt im Interview mit unseren WAP-Korrespondenten Ulrich Degen: "Tatsache ist, dass die Berufsschule nicht nur im Verhältnis zu den Ausbildungsbetrieben ein reaktives Anhängsel ist, sondern auch innerhalb des Bildungssystems eine kaum beleuchtete Position einnimmt." Die Bildungsforscherin fordert: "Deshalb muss es künftig darum gehen, sich einerseits differenzierter mit der Bedeutung der Berufsschule als Bildungsinstitution zu befassen, um andererseits von dort aus gezielt Anforderungen an das Beschäftigungs- und Bildungssystem, dessen Regelungs- und Entscheidungsstrukturen zu formulieren." Sie wirft weiter die Frage nach einem umfassenden Bundesgesetz auf: "Ob ein nicht nur den Ausbildungsbetrieb, sondern auch die Berufsschule umfänglich umfassendes Bundesgesetz zu einer machtpolitischen Symmetrie im dualen System führen könnte, ist künftig ernsthaft zu überlegen, vor allem auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Verantwortung des Bundes für das Bildungssystem." Hintergrund für das zugegebenermaßen lange aber lohnenswerte Interview ist eine aktuelle Expertise von Büchter für die Friedrich-Ebert- und die Hans-Böckler-Stiftung.

Ulrich Degen: Man kann wohl nicht mehr definitiv bis zum letzten Vorurteil empirisch und wissen­schaftlich klären, aus welchen Zusammenhängen die in der 'veröffentlichten Meinung' geäußerten negativen Attribute und Zuschreibungen für Berufsschulen herrühren. Und es wäre m.E. auch Zeitverschwendung, dem nochmals im Einzelnen nachzugehen, wenn man nach der Lektüre Ihrer Analyse weiß, dass den Berufsschulen als Bildungsinstitutionen bei "... der Realisierung des gemeinsamen Bildungsauftrags zwischen Schule und Be­trieb die meiste Expertise und das größte Gewicht in der dualen Ausbildung und auf dem regionalen Ausbildungsmarkt" z.B. zukommt. Damit steigen wir in ein bislang so nicht posi­tiv für die Berufsschulen erzähltes Narrativ ein. Und das sehen Sie ja auch so.

 

Karin Büchter: Berufsschulen sind in erster Linie Bildungsinstitutionen und haben als solche tatsächlich die meiste Expertise im dualen System. Ihre Aufgabe besteht darin, die Schüler_innen bzw. Auszubildenden dazu zu befähigen, "in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu handeln" so die KMK. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung individualisierten und selbstbestimmten Lernens, eines kritisch-konstruktiven Verständnisses gesellschaftlicher Entwicklungen und eines demokratischen Bewusstseins. Aus all diesen Gründen sind Berufsschulen als Bildungsinstitutionen ein unentbehrlicher Teil im dualen System. Leider wird diese Bedeutung der Berufsschulen häufig unterschätzt, da die Meinung vorherrscht, dass sie in erster Linie Anhängsel der Ausbildungsbetriebe seien und ihre reale Aufgabe darin bestehe, eine die betriebliche Ausbildung ergänzende Beschulung durchzuführen, mit dem Ziel, dem Arbeitsmarkt passgenau qualifizierte, beschäftigungsfähige und berufsreife Fachkräfte zu liefern. Mit so einer Zuschreibung stellt sich die Frage, inwieweit die Berufsschule sozialpolitisch und emanzipatorisch begründete Bildungsansprüche tatsächlich realisieren kann. Und woran es liegt, dass sich das Bild der Berufsschule als Bildungsinstitution schwer durchsetzt?

 

Tatsache ist, dass die Berufsschule nicht nur in im Verhältnis zu den Ausbildungsbetrieben ein reaktives Anhängsel ist, sondern auch innerhalb des Bildungssystems eine kaum beleuchtete Position einnimmt. Obwohl sie als eine Schulform berufsbildender Schulen Bestandteil des Sekundarbereichs II des Bildungssystems ist, hat sie längst nicht das Ansehen wie das Gymnasium. Für Jugendliche und ihre Eltern sind allgemeinbildende Abschlüsse mit der Perspektive einer akademischen Laufbahn attraktiver als Ausbildungsabschlüsse unterhalb des Hochschulniveaus. Deshalb wird die Berufsschule immer noch als Verlegenheitsgriff für Schüler_innen gesehen, die in weiterführenden allgemeinbildenden Schulen keine Chance haben und sich aus der Not heraus in eine Bildungs- und Karrieresackgasse begeben müssen. Dieses Image der Berufsschulen ist allerdings auch nicht völlig unberechtigt. Denn die Kombination von dualem Ausbildungsabschluss und (Fach-)Abitur setzt sich kaum durch, auch der Dritte Bildungsweg, also Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung, wird nach wie vor aufgrund von Vorbehalten im akademischen Sektor, bildungskultureller Differenzzuschreibungen und Versagensängsten beruflich Qualifizierter wenig genutzt. Die Verantwortung hierfür darf aber nicht bei den Berufsschulen gesehen werden, sondern vor allem bei ihren Referenzsystemen und -institutionen des Beschäftigungssystems und Bildungssystems mit ihren jeweiligen Regelungs- und Entscheidungsstrukturen hinsichtlich von Zugängen und Durchlässigkeiten in die duale Ausbildung und von dort in die Hochschulen und Universitäten. Beispielsweise sind Berufsschulen nicht in der Lage, die Ausgrenzung von Jugendlichen von dualer Ausbildung zu kompensieren, da die Selektionsprozesse ausschließlich in betrieblichen Auswahlverfahren erfolgen, obwohl ihnen die Integration und Förderung benachteiligter Jugendlicher in ihrem Unterricht gelingen würde. Auch ist nicht gewährleistet, dass die Absolvent_innen der Berufsschule freien Zugang zu Hochschulen und Universitäten haben, da Auswahl- und Entscheidungsprozesse im Hochschulsektor hierüber entscheiden. Deshalb muss es künftig darum gehen, sich einerseits differenzierter mit der Bedeutung der Berufsschule als Bildungsinstitution zu befassen, um andererseits von dort aus gezielt Anforderungen an das Beschäftigungs- und Bildungssystem, dessen Regelungs- und Entscheidungsstrukturen zu formulieren.

 

Unisono stellen alle relevanten gesellschaftliche Gruppierungen, Vertreter der Wirt­schaft, der Gewerkschaften und auch der Politik immer wieder fest und betonen, dass die duale Ausbildung Garant für die deutsche Fachkräftebasis ist, die wiederum für den Wirt­schaftsstandort Deutschland von hoher und ausschlaggebender Bedeutung ist und sie lo­ben das hohe fachliche Niveau. Sind sie sich dabei darüber im Klaren, dass zu nicht unwesentlichen Teilen auch die Berufsschulen dazu beitragen?

 

Aktuell wird wieder gefordert, die Berufsschule zu stärken, sie aus ihrem Mauerblümchen- oder Schattendasein zu befreien. Damit wird unterstellt, dass Berufsschulen bis jetzt eher unauffällige und unspektakuläre Arbeit geleistet hätten und nicht sonderlich innovativ waren. Ein ausgeprägtes Bewusstsein insbesondere hinsichtlich der curricularen und methodisch-didaktischen Modernisierung in Berufsschulen scheint demnach nicht zu bestehen. Deshalb ist tatsächlich zu fragen, ob sie sich wirklich darüber im Klaren sind, dass Berufsschulen mit ihrem professionell aufgebauten methodisch-didaktischen praxisorientierten und theoriegeleiteten Unterricht einen wichtigen Beitrag zum Erfolg des dualen Systems leisten.

 

Im Laufe der letzten dreißig Jahre hat es in curricularer und didaktischer Hinsicht wichtige Innovationen an Berufsschulen gegeben. Beispielsweise waren die Diskussionen um Schlüsselqualifikationen, Handlungsorientierung sowie Neuordnungen von Ausbildungsberufen in den 1980er Jahren eine bedeutende Grundlage für Konzepte gestaltungsorientierten Unterrichts, in dem die soziale Dimension von Technik, die Ganzheitlichkeit von beruflichen Aufgaben und Aspekte wie Mitgestaltung und Selbstverantwortung im Kontext beruflichen Handelns zu Bezugspunkten für den berufsschulischen Unterricht wurden. Etwa zeitgleich wurden Prinzipien wie Persönlichkeitsorientierung und Situationsorientierung als curriculare und didaktische Regulative einer einseitigen Fach- und Qualifikationsorientierung berufsschulischen Unterrichts ins Spiel gebracht. Diese Entwicklungen und Diskussionen verhalfen schließlich einer größeren curricularen Reform für den berufsschulischen Unterricht zum Durchbruch, der Einführung und Umsetzung der Lernfelder, angestoßen 1996 durch die KMK. An die Stelle lehrerzentrierten, theoriegeladenen, praxis- bzw. berufsfernen Lernens sollte das handlungs- und problemorientierte Lernen in komplexen Lehr-Lern-Settings treten. Bezugspunkte für die Gestaltung beruflichen Aufgabenstrukturen und Handlungsverläufe sollte nicht mehr vorrangig eine Fachsystematik sein, sondern Arbeits- und Geschäftsprozesse sollten von nun Orientierungsgrößen darstellen. Die Aufgabe der Berufsschule bestand nun darin, ausbildungsrelevante Arbeits- und Geschäftsprozesse zu identifizieren und diese im Zusammenhang der jeweiligen Fachwissenschaften didaktisch aufzubereiten. Mit dieser Reform, mit der die Nähe des berufsschulischen Unterrichts zur betrieblichen Praxis gesichert werden sollte, sollte gleichzeitig die Position der Berufsschule im dualen System gestärkt werden.

 

Allerdings gab und gibt es auch Probleme bei der Lernfeldarbeit, die insbesondere auf Deutungsunklarheiten nicht nur im schulischen Binnenraum, sondern auch bei der für die Identifizierung von charakteristischen Geschäfts- und Arbeitsprozessen notwendigen Austausch zwischen den Lernorten zurückzuführen sind. Beispielsweise bestehen an beiden Lernorten unterschiedliche Auffassungen von beruflichen Kompetenzen, die auf die jeweiligen Systemzugehörigkeiten zurückgeführt werden können. So ist der berufsschulische Rahmenlehrplan nach pädagogischen und wissenssystematischen Gesichtspunkten aufgebaut. Hier geht es um die Förderung beruflicher Handlungskompetenz, die Fachkompetenz, Humankompetenz und Sozialkompetenz einschließt. In der betrieblichen Ausbildung steht die fachliche Vorbereitung auf eine Berufstätigkeit im Vordergrund. Nach § 1 des Berufsbildungsgesetzes von 2005 geht es hier nur um die Förderung einer eng an Arbeit ausgerichteten beruflichen Handlungsfähigkeit mit dem Ziel der Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt. Außerdem erfordert Lernfeldarbeit einen intensiven und kontinuierlichen Austausch zwischen den beiden Lernorten, der nicht selbstverständlich ist. Ob und wie dieser erfolgt, ist auch eine Frage, welche Rolle Ausbildungsbetriebe ihrer Ausbildung beimessen. Auch sie haben Bedingungen zu erfüllen, die für die konsequente Umsetzung von Lernfeldern und für didaktische Innovationen in der dualen Ausbildung förderlich sind. Beispielsweise heißt es in der Ausbildereignungsverordnung (AEVO) im Handlungsfeld drei, dass Ausbilder_innen die Aufgabe haben, "selbstständiges Lernen in berufstypischen Arbeits- und Geschäftsprozessen handlungsorientiert zu fördern" "lernförderliche Bedingungen und eine motivierende Lernkultur zu schaffen, "Rückmeldungen zu geben und zu empfangen", "Auszubildende bei Lernschwierigkeiten durch individuelle Gestaltung der Ausbildung und Lernberatung zu unterstützen", "die soziale und persönliche Entwicklung von Auszubildenden zu fördern, "Probleme und Konflikte rechtzeitig zu erkennen sowie auf eine Lösung hinzuwirken" und  "interkulturelle Kompetenzen zu fördern". Wenn dies gängige Alltagspraxis in der betrieblichen Ausbildung wäre, wäre eine größere Nähe zum berufsschulischen Unterricht und ein Bewusstsein für die Bedeutung professionellen Unterrichts in der dualen Ausbildung wahrscheinlicher.

 

Nochmals zur Erinnerung: Die Berufsschule bildet als eine der Schulformen berufs­bildender Schulen zusammen mit den ausbildenden Betrieben die duale Ausbildung, in "der Jugendliche sowohl am Lernort Betrieb als auch in der Berufsschule für einen aner­kannten Ausbildungsberuf nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) oder Handwerksordnung (HwO) theoretisch und praktisch ausgebildet werden". Sie verweisen mit Blick auf die His­torie der Berufsschule darauf, dass "ihr unterprivilegierter Status in der dualen Ausbildung historische Kontinuität hat". Woher resultiert dieser Status und wo lagen seine Anfänge?

 

Historisch betrachtet sind Betriebe der Ursprungsort beruflicher Bildung. Fasst man den Begriff des Betriebs weit, also verstanden als Organisationsform arbeitsteiliger Produktion und Leistungserbringung zum Zwecke der Reproduktion der wirtschaftlichen Lebensgrundlage, kann die Geschichte betrieblichen Lernens bis in die Zeit der Stammesgesellschaft zurückverfolgt werden. Auch noch in der Ständegesellschaft war die berufliche Bildung in erster Linie betrieblich organisiert und eng mit der handwerklichen und kaufmännischen Arbeit verbunden. Sie war Bestandteil der Ordnung der Zünfte und der Gilden, was den Handwerkern und Kaufleuten den Vorteil bot, ihre Angelegenheiten in der Lehre in eigenverantwortlicher Selbstverwaltung zu regeln. Betriebe waren also hinsichtlich der Organisation und Durchführung der Lehre autonom. Im 19. Jahrhundert vertrug sich diese Autonomie jedoch nicht mehr mit den Bemühungen des Staates, zünftlerische Sonderrechte aufzuheben und damit auch das öffentliche Interesse für die betriebliche Berufsbildung zu wecken. Defizite in der Lehrlingsbildung wurden aufgedeckt, beispielsweise durch den Verein für Socialpolitik, und die Notwendigkeit wurde erkannt, durch zusätzliche schulische Angebote die Betriebslehre der volksschulentlassenen Jugend zu ergänzen. Von staatlicher, schul- und sozialpolitischer Seite wurde sodann der Ausbau des damals sogenannten Fortbildungsschulwesens gefordert. Das Handwerk erkannte durchaus die Vorteile, die Handwerkslehre durch Schulunterricht zu ergänzen, lehnte aber den Ausbau eines öffentlichen Fortbildungsschulwesens ab, weil es nicht einen halben Tag in der Woche auf seine Lehrlinge verzichten und seinen alleinigen erzieherischen Einfluss nicht abgeben wollte. Die Berufsschulen in der Kaiserzeit waren vor allem dann akzeptiert, wenn sie den konservativen Obrigkeitsstaat beim Eindämmen sozialistischer Parteibestrebungen unterstützten. Auch die Industrie begann ein eigenes industrietypisches Modell der Lehrlingsbildung zu etablieren und zeigte zunächst kein eindeutiges Interesse am staatlichen Einfluss in der beruflichen Bildung bzw. am seit den 1920er Jahren so bezeichneten öffentlichen Berufsschulwesen. Ihr ging es darum, den Lehrling so zu erziehen, dass er sich vollständig mit dem Betrieb identifiziert und sich nicht gewerkschaftlichen Forderungen anschloss. Deshalb waren große Industriebetriebe auch am Ausbau industrieeigener Berufsschulen interessiert. Dennoch gelang es den Berufsschulen in der Weimarer Republik aufgrund der damaligen Schulpolitik sich als Bildungsinstitution zu etablieren, nicht zuletzt, weil sie als Möglichkeit gesehen wurde, der werktätigen Jugend demokratische Denkweisen zu vermitteln. Unter der NS-Diktatur wurden die Berufsschulen wie das Schulwesen insgesamt ideologisch radikalisiert. Aufgrund der engen Verflechtung des NS-Regimes mit der Wirtschaft und der Betriebszentrierung der Berufsbildung spielten die Berufsschulen allerding kaum eine nennenswerte Rolle, sondern verwahrlosten. Nach 1945 setzte sich der unterprivilegierte Status zunächst weiter fort. Im seinem Gutachten über die Lehrlingsausbildung in Deutschland resümiert der Amerikaner George Ware Anfang der 1950er Jahre, dass die deutsche Lehrlingsausbildung eher eine Angelegenheit der deutschen Wirtschaft sei als eine des Schulsystems. Auch die KMK hob die prominente Bedeutung der Betriebe in der Berufsausbildung hervor und sah darin nicht nur pädagogische Vorteile, sondern auch eine Kostenentlastung. Vor allem insistierten die wirtschaftlichen Spitzenorganisationen und Interessenverbänden, die mit der BRD-Gründung entstanden, darauf, dass die Wirtschaft eine zentrale Verantwortung in der betrieblichen Bildung behält und Betriebe der zentrale Lernort in der Berufsbildung bleiben. Auch wenn Gewerkschaften, Lehrerverbände und der Deutsche Bildungsrat dazu beitragen konnten, die Position der berufsbildenden Schulen im Bildungswesen insgesamt weiter auszubauen, wurde die betriebliche Dominanz in der dualen Ausbildung mit der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes von 1969 schließlich gestärkt. Die Position des Bundes in der betrieblichen Ausbildung wurde gefestigt, die Berufsschulen wurden in diesem Regelwerk nicht berücksichtigt, ihre Reform blieb Aufgabe der einzelnen Länder. Im neokorporativen Geflecht von Staat und Wirtschaft ist machtpolitisch betrachtet die betriebliche Ausbildung also nach wie vor der dominante Part in der Ausbildung, trotz diverser Ausbildungsmarktkrisen und kontinuierlicher Kritiken an der betrieblichen Ausbildungsqualität. Dies spiegelt sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung und den aktuellen Programmatiken zur dualen Ausbildung wider. 

 

Seit jeher entscheiden Ausbildungsbetriebe über die Vergabe von Ausbildungsplätzen und schließen mit den von ihnen ausgewählten Bewerber_innen die Ausbildungsverträge ab. Die Ausbildungsvergütung erfolgt im Rahmen der Tarifverträge, und die Auszubildenden verbringen zwei Drittel ihrer wöchentlichen Ausbildungszeit am Lernort Betrieb und ein Drittel in der Berufsschule. Die Kammern überwachen die Durchführung eines großen Teils der Ausbildung, auch die Prüfungshoheit liegt bislang bei den Ausbildungsbetrieben bzw. den Kammern, auch wenn die KMK anstrebt, die Möglichkeit zu schaffen, Ausbildungsabschlussprüfungen zu einer gemeinsamen Abschlussprüfung der Partner in der dualen Berufsausbildung auszugestalten. Anbei bemerkt ist es angesichts der betrieblichen Dominanz in der dualen Ausbildung auch falsch, wenn für regionale Ausbildungsmarktprobleme die Berufsschulen verantwortlich gemacht werden.

 

Ob ein nicht nur den Ausbildungsbetrieb, sondern auch die Berufsschule umfänglich umfassendes Bundesgesetz zu einer machtpolitischen Symmetrie im dualen System führen könnte, ist künftig ernsthaft zu überlegen, vor allem auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Verantwortung des Bundes für das Bildungssystem. 

 

Sie weisen zu Recht darauf hin, dass der Lernort 'Berufsschule', verglichen zu allen übrigen Schulformen des berufsbildenden Schulwesens in formal-rechtlicher Hinsicht am striktesten mit dem Beschäftigungssystem verbunden ist. Welche Konsequenzen hat dies für die Funktion der Institution 'Berufsschule' und ihre ursprünglich angelegte Autonomie im dualen System?

 

Auch für die anderen Schulformen im berufsbildenden Schulwesen sind Anforderungen im Beschäftigungssystem ein wichtiger Bezugspunkt für ihre Unterrichtsinhalte, wie beispielsweise für die Berufsfachschulen mit ihrer vollzeitschulischen Ausbildung. Die Berufsschulen sind mit dem Beschäftigungssystem deshalb stärker verknüpft, weil sie von regionalen, wirtschafts-, arbeits- und ausbildungsmarktpolitischen Entwicklungen unmittelbar abhängig sind. Besetzungs- und Versorgungsprobleme auf dem regionalen Ausbildungsmarkt, aber auch betriebliche Schwerpunktsetzungen hinsichtlich ihres Angebots an Ausbildungsberufen schlagen sich im berufsschulischen Angebot, in der Klassen- und Unterrichtsgestaltung nieder.

 

Wichtig ist, dass sich aus der engen Verbundenheit der Berufsschule mit dem Beschäftigungssystem nicht die Vorstellung eines Determinismus oder einer linearen Abhängigkeit ergibt. Eine solche Sicht versperrt die Möglichkeit, die Berufsschule in ihrer Autonomie und Akteursqualität in der dualen Ausbildung zu begreifen. Für die duale Ausbildung gibt es unterschiedliche Prinzipien, die die Position der Berufsschule ausbildungsmarktübergreifend klarstellen. Hierzu gehören das Konsensprinzip, das vorgibt, dass im Rahmen des neokorporatistischen Arrangements und des kooperativen Föderalismus, dass auch bei der Ordnung und Planung der Ausbildung Konsens besteht. Das Dualitätsprinzip, also die Verknüpfung des Lernens in der Ausbildung an den zwei Lernorten Betrieb und Schule setzt voraus, dass sich beide Lernorte über Anforderungen in der Ausbildung und ihren curricular-didaktischen Umsetzungen austauschen. Um das Dualitätsprinzip zu stärken, ist in den letzten Jahren die Lernortkooperation unterschiedlich rechtlich verankert worden. Das Berufsbildungsgesetz von 2005 weist im § 2, Absatz 2 darauf hin, dass die Lernorte bei der Durchführung der Ausbildung zusammenzuwirken haben. Auch in einigen Schulgesetzen der Länder wird die Lernortkooperation gefordert. Inwieweit die schulrechtliche Verankerung der Lernortkooperation tatsächlich zu ihrer Verbesserung beiträgt, ist bislang empirisch nicht belegt.

 

Schließlich geht es aber um die Fragen, welche Verbindlichkeiten solche Prinzipien und rechtlichen Verankerungen haben, und inwieweit sie eine Autonomie der Berufsschulen auch über die Region hinaus stärken können, oder ob nicht auch bundesweite Regelungen denkbar wären. Je nach wirtschaftlicher Situation und kommunalen Handlungsspielräumen gibt es zwischen den einzelnen Bundesländern und Regionen große Unterschiede in den Berufsschulen hinsichtlich Belastungen, Ausstattung und Angebote. Das Ziel muss es sein, solche regionalspezifischen Differenzen auszugleichen, vor allem auch um allen Jugendlichen den Zugang zur beruflichen Ausbildung zu ermöglichen und ihre Lebensbedingungen in ihrer jeweiligen Region zu sichern. Deshalb muss es eine regional- und landesübergreifende bundesweite Aufgaben sein, ein gutes und verlässliches Berufsschulangebot dauerhaft zu sichern. Hierdurch wäre die Berufsschule relativ unabhängig von regionalen Ausbildungsmarktschwankungen und könnte ihre Kapazitäten auch für individuelle Förderungen, Nachqualifizierungen oder Weiterbildung anbieten.

 

Wenn man sich die lange Geschichte der Berufsschule vor Augen hält, dann wird klar, und das haben Sie ja auch diagnostiziert, dass sie sich eigentlich immer im Spannungsfeld zwischen stärkerer Anbindung an betriebliche Interessen wie z.B. Ausbil­dungszeitregelungen und das Beschäftigungssystem einerseits und den Interessen des Bildungssystems andererseits bewegte. Hat die Berufsschule aus Ihrer Sicht "im Rahmen ihrer doppelten Systemzugehörigkeit" eine eigenständig legitimierte Bildungsinstitution Berufsschule entwickeln können und wie sieht die tendenzielle Entwicklung Ihres Erachtens aus und falls dazu Reformen ergriffen werden sollen, was müssten diese ggf. in Angriff nehmen?

 

Weder auf berufsschulischer Seite noch auf Seiten der allgemeinbildenden Schulen, Hochschulen und Universitäten scheint das Bewusstsein von der Berufsschule als Bildungsinstitution besonders ausgeprägt zu sein. Dies ist der historischen Hypothek geschuldet, dass seit der Bildungsreform im 19. Jahrhundert nicht nur für die Bildungselite, sondern zunehmend auch für die breite Bevölkerung als die eigentliche und am höchsten bewertete Bildung die am Humboldt'schen Bildungsideal orientierte allgemeine höhere wissenschaftlich-literarische Bildung galt, während sich für die berufsschulische Bildung kein entsprechendes Ideal entwickelt hat. Vielmehr wurde diese in ihrem zweitrangigen Status mit begrenzten Karriereaussichten für die Schüler_innen gefestigt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat es Versuche gegeben, Berufsbildung als unverzichtbaren Bestandteil der Menschenbildung zu deklarieren und entsprechend die Berufsschule zu humanisieren. Insgesamt aber dauerte es mehr als hundert Jahre, bis sich die Berufsschule zumindest formal zur eigenständigen Bildungsinstitution entwickelt hat, wenn man die Anfänge der Berufsschule auf Mitte des 19. Jahrhunderts datiert und die bildungspolitische Konsolidierung in etwa auf die 1970er Jahre. Vor ungefähr fünfzig Jahren wurde die Berufsschule dem Sekundarbereich II des Bildungswesens zugeordnet, berufsschulische Curricula auf allgemeinbildende Unterrichtsfächer ausgeweitet, die Berufsschuldidaktik an bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Standards ausgerichtet, Möglichkeiten des Erwerbs allgemeiner Berechtigungen in Kombination mit dem Berufsschulabschluss verbessert und die Akademisierung der Berufsschullehrer_innenbildung abgeschlossen.

 

Wie wichtig es ist, die Berufsschule auch als Bildungsinstitution zu begreifen, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sich regionale Wirtschafts- und Strukturentwicklung nicht nur auf Firmenansiedlungen, Technologieförderung, Infrastrukturausbau und Beschäftigungsförderung reduzieren kann. Diese Initiativen sind auch davon abhängig, wie wichtig Bildung, individuelle Förderung, soziales Klima und Chancengleichheit in einer Region sind. Deshalb nehmen Berufsschulen sowohl aufgrund der Nähe zum Beschäftigungssystem, als auch als Bildungsinstitutionen eine wichtige Position nicht nur für die duale Ausbildung, sondern auch für die regionale Wirtschaft ein. In regionalen Netzwerken und Kooperationsbeziehungen können sie aufgrund der Professionalität des Kollegiums richtungsweisende Positionen beziehen. Sie können mit ihren eigenen pädagogischen Expertisen und Konzepten konstruktiv und kooperativ Einfluss auf betriebliche Ausbildungsprozesse und damit auf die regionale Ausbildungspolitik nehmen, um beispielsweise Ungleichheit und schlechter Ausbildungsqualität entgegenzuwirken. Entwicklungsfördernde Möglichkeiten hierfür sind beispielsweise gemeinsame Workshops zwischen Ausbilder_innen und Lehrkräften im Rahmen von Lernkooperationen, in denen die Neustrukturierung von Ordnungsmitteln und Curricula, die Ermöglichung des Zugangs bislang benachteiligter Jugendlicher zu Ausbildung, kooperative Lernprozessbegleitung, Umgang mit der Digitalisierungsnorm sowie die Notwendigkeit und Reichweite von Flexibilisierungskonzepten berufsschulischer Angebote verhandelt werden können.

 

Wichtig aber ist, dass bei den unzähligen Reformvorschlägen nicht nur der Blick auf die Schulleitungen und Lehrer_innen gerichtet wird, denen wieder die ganze Verantwortung aufgebürdet werden soll. Berufsbildende Schulen und damit die Berufsschulen sind in einen schulrechtlich-administrativen Kontext eingebunden, dessen Akteur_innen bzw. Akteurskonstellationen auf den verschiedenen Ebenen der schulischen Steuerung, Verwaltung und Organisation über unterschiedliche Befugnisse, Interessen, Beteiligungs- und Einflusschancen verfügen. Auf dieser Basis werden die bildungspolitische Bedeutung der Berufsschule und ihre Position zwischen dem Sekundarbereich I und dem Hochschul- bzw. Universitätssektor im Bildungssystem verhandelt, berufsschulische Reformprogramme ausgemacht, Prioritäten und Strategien bei der Umsetzung von Reformen vorgeschlagen sowie die finanzielle Unterstützung und die kapazitäre Versorgung der Schule festgelegt. Zu den aktuellen am häufigsten vorgeschlagenen Reformen zählen die curricularen, berufsbezogenen Flexibilisierungen, die Anschlussfähigkeiten des Übergangsbereichs an die Berufsschule und die der Berufsschule an die Hochschule bzw. die Universität. Die Frage bei diesen Reformvorschlägen ist also, wer genau sind Adressat_innen solcher Reformüberlegungen und welche Rolle nehmen Berufsschulen bei solchen Reformvorhaben an welcher Stelle ein? 

 

Wenn man an die Möglichkeiten der Verbesserung und die Vorbedingungen zur Aufwertung der Institution Berufsschule denkt, werden die auch öffentlich immer wieder geforderten Punkte einer besseren materiellen Ausstattung der Infrastruktur, die weitere Digitalisierung durch Beschaffung entsprechender (Ausbildungs-)Medien und Schulungen darin sowie die weitere Professionalisierung der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern angeführt. Sie haben in Ihrer Expertise Zweifel daran geäußert, dass dies hinreichende Bedingungen für eine Aufwertung der Berufsschulen sein können und daraus weitere Be­dingungen abgeleitet, auch unter dem Aspekt, dass die Berufsschulen ja keine homogene Einheiten sind.

 

Als Voraussetzungen für die Aufwertung der Berufsschulen gelten vor allem eine bessere materielle Ausstattung, Digitalisierung und Lehrer_innenbildung. Doch allein die Versorgung der Berufsschulen mit Inputfaktoren genügt nicht, da nur das Vorhandensein solcher Voraussetzungen noch nichts darüber aussagt, wie diese schulintern aufgegriffen, akzentuiert und umgesetzt werden, in welche schulische Gesamtstrategie der Organisations- und Personalentwicklung sie eingebunden werden und welche Bedeutung sie für die berufsschulischen Beziehungen nach außen und ihre Position in der dualen Ausbildung haben. Berufsschulen sind weder homogene noch konstant handelnde Einheiten. Sie haben Eigenarten und Pfadabhängigkeiten im Innern und in ihren äußeren Beziehungen, die sich bewährt haben oder aber auch hinderlich sein können. Daher ist die Frage nach den Inputfaktoren nicht lediglich auf das Was und Wieviel zu reduzieren, sondern um die nach Frage dem Wie, in welcher Hinsicht und mit wem zu ergänzen. Dies gilt auch für die Lehrer_innenbildung. Hierbei kann es nicht nur um eine quantitative Versorgung der Lehramtsstudiengänge mit Studierenden gehen, sondern auch um schulische Vorstellungen der künftig inhaltlichen Ausrichtungen und Schwerpunktsetzung. Die Lehrer_innbildung für berufsbildende Schulen steht unter einem permanenten Modernisierungsdruck, der sich in vielfältigen Reformen niederschlägt, die das strukturelle Arrangement, die Gewichtung und inhaltliche Überarbeitung fachwissenschaftlicher, fachdidaktischer, erziehungswissenschaftlicher und praxisbezogener Anteile des Studiums betreffen. Derzeit existiert eine kaum überblickbare Vielzahl an Reforminitiativen. Aus der Perspektive des dualen Systems und der Berufsschule wäre es interessant, den Zusammenhang zwischen der dualen Ausbildung, der Rolle der Berufsschule als Bildungsinstitution und der Lehrer_innenbildung genau zu hinterfragen.

 

Interessant aus demokratietheoretischer Sicht ist die Frage, über welche Gestal­tungsmöglichkeiten und Freiräume Schulleitungen sowie Lehrkräfte verfügen im Rahmen landesrechtlicher und kultusministerieller Vorgaben und der durch die Schulverwaltungen kontrollierten Überwachung und Steuerung, um beispielsweise eigene Profilvorstellungen im regionalen Kontext zu verwirklichen. Als Gegenpol gegen eine mögliche Akteursmacht der Berufsschulen in der Region haben sie 'die betriebliche Dominanz der (neokorporativ) gesteuerten Ausbildung und der "Pressure-Politik" der Wirtschaft in der dualen Ausbil­dung' ausgemacht. Wie steht es jetzt aber mit den Freiräumen der Berufsschule(n)?

 

Berufsbildende Schulen und damit Berufsschulen unterliegen landesrechtlichen und kultusministeriellen Vorgaben und werden von einer entsprechenden Verwaltungshierarchie überwacht und gesteuert. Mit der Dezentralisierung und der Vergrößerung der Eigenständigkeit von Schulen sollen auch schulische Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten vergrößert werden, damit sie flexibler mit regionalen Anforderungen umgehen und eigene Potenziale besser zur Geltung bringen können. Auch wenn mit der Eigenständigkeit der Schulen die staatliche Zuständigkeit und die verwaltungshierarchische Verflechtung der Schulen bestehen bleiben und der Autonomiegewinn auch mit einem neuen Belastungsdruck verbunden ist, bleiben im schulischen Innern für Schulleitungen und Lehrkräfte Freiräume bestehen, in denen bürokratische Regeln und Vorgaben ausgelegt, umgedeutet und umgesetzt werden. Wie diese genutzt werden können, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie dem Selbstverständnis der Schule, den Interessen der Schulleitung und des Kollegiums und dem Belastungsdruck, dem die Lehrer_innen durch die Selbstverwaltung ausgesetzt sind.

 

Auch wie sie sich in regionalen Kontexten profilieren, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Berufsschulen sind in unterschiedlichen schulexternen Gremien, Ausschüssen, Arbeitsgruppen und Kooperationsbeziehungen vertreten. Hierzu gehören Landesausschüsse, Berufsbildungsausschüsse, regionale Netzwerke, Lernortkooperationen und projekt- oder themenbezogene ad-hoc Arbeitsgruppen. In ihnen haben sie zumindest theoretisch die Möglichkeit der Intervention in die regionale Berufsbildungspolitik. Welchen Stellenwert sie in diesen Gremien, Ausschüssen, Arbeitsgruppen und Kooperationsbeziehungen jeweils haben, hängt von der formalen Entscheidungs- und Mitbestimmungskompetenz ab, und davon, wie sie mit ihren Vorschlägen unterstützt werden und sich durchsetzen können. Dies wiederum ist eine Frage davon, wie die Schulen in Abhängigkeit ihres Selbstverständnisses und Profils in der Region wahrgenommen werden, wie sie in gewachsene formelle und informelle Akteurskonstellationen involviert sind, und welche Akzeptanz sie bei regionalen Strukturentwicklungen genießen. Auch die Aufgeschlossenheit der Berufsschulen selber gegenüber regionalen Entwicklungen und Veränderungen, ihr berufsbildungspolitisches Wissen und ihre Informiertheit, ihre Erfahrungen mit und ihr Interessen an regionaler Verantwortungsübernahme sowie ihre Gepflogenheiten, mit denen sie externe Forderungen intern kommunizieren und interpretieren, dürften hierbei eine Rolle spielen.

 

Interessant ist vor allem auch die Frage, ob und inwiefern sie angesichts der betrieblichen Dominanz in der dualen Ausbildung Entwicklungen und Entscheidungen in der dualen Ausbildung und auf dem Ausbildungsmarkt mitsteuern. Anhaltspunkte für diese Überlegung bietet die Tatsache, dass Ausbildungsmarktentwicklungen und betriebliche Ausbildungsentscheidungen nicht einfach einer übergeordneten ökonomisch-rationalen Logik folgen, sondern dass die Motive auszubilden mitunter komplex, widersprüchlich und verhandelbar sind. Das bedeutet, dass Berufsschulen durch die regionale Wirtschaft oder den regionalen Ausbildungsmarkt nicht vollständig determiniert sind.

 

Im Zusammenhang mit der Situation von Berufsschulen in dörflich-ländlichen Regionen haben Sie u.a. darauf hingewiesen, dass Betriebe außer Kosten-Nutzen-Überlegun­gen bei ihren Entscheidungen für eine Ausbildung auch nicht-ökonomische Gründe haben können, die dann auch zum Erhalt einer Berufsschule in der Nähe beitragen können, was sich positiv u.a. für eine ortsnahe Beschulung auswirken kann. Welches sind aus Ihrer Sicht in dieser Situation wichtige nicht-ökonomische und für eine aktive Berufsschule genannte Entscheidungsgründe für eine Ausbildung durch die Betriebe?

 

In erster Linie folgen Ausbildungsentscheidungen Kosten-Nutzen-Erwägungen. Aber nicht ausschließlich. Beispielsweise gibt es auch Betriebe, die aus sozialer Verantwortung heraus ausbilden, um Jugendlichen eine Chance zu geben. Soziale Verantwortung und ökonomisches Kalkül müssen sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen. Auch Ausbildungskampagnen und moralische Aufforderungen von Innungen oder Kammern können Betriebe dazu veranlassen auszubilden, ebenso wie das betriebliche Interesse am Erhalt einer nahegelegenen Berufsschule, zu der eine gewachsene Kooperationsbeziehung besteht, und deren Existenz Betrieben zumindest immer die Option offenlässt, wenn sie sich eines Tages wieder für Ausbildung entscheiden sollten, die Jugendlichen ortsnah beschulen zu können. So gesehen sind nicht nur regionalökonomische und betriebswirtschaftliche Motive, sondern auch soziokulturell gewachsene Kontexte, soziale Ereignisse und bestimmte formelle und informelle regionale Akteurskonstellationen mitverantwortlich für das Ausbildungsmarktgeschehen in den Regionen. Die Frage ist, welche Bedeutung und welchen Einfluss Berufsschulen bei solchen Entscheidungsprozessen haben, und ob sie durch das Mitmischen in solchen Akteurskonstellationen das regionale Ausbildungsgeschehen mitsteuern können. Konkret geht es um die Frage: Können Berufsschulen mit besonderen Strategien und Angeboten dazu beitragen, die Entwicklung auf dem regionalen Ausbildungsmarkt mitzusteuern?

 

Es gibt ja einige Beispiele, die zeigen, dass Ausbildung in Regionen ohne das besondere Dazutun der Berufsschule nicht zustande gekommen wäre. So haben die Berufsschulen seit der Jugendarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren einige Anstrengungen unternommen, um die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe zu unterstützen und Auszubildenden in strukturschwachen und ländlich-peripheren Regionen wohnortnahe Beschulungsmöglichkeiten zu bieten. Zu nennen sind hier eine überregionale Zentralisierung von Fachklassen, in Form von Bezirksfachklassen und länderübergreifenden Fachklassen in so genannten Splitterberufen, damit die Auszubildenden in einem wohnortnahen Betrieb lernen können, jedoch in einem anderen Bezirk oder Bundesland zur Berufsschule gehen. Andere Beispiele zeigen sich anhand der Unterstützung der Attraktivität und Integrationsfähigkeit der dualen Ausbildung durch Berufsschulen, wie berufsschulische Konzepte zur Aufnahme geflüchteter Jugendlicher oder von Studienabbrecher_innen. Weitere Beispiele sind Schulfusionen zur fachlichen Bündelung von Ausbildungsberufen bzw. Fachklassen, die Modernisierung von Schulbauten und der schulischen Infrastruktur. Hierdurch sollen die berufsbildenden Schulen bzw. Berufsschulen eine stärkere Präsenz in ihrem regionalen Umfeld und ein größeres regionalpolitisches Gewicht erhalten und nicht zuletzt auch ein Anreiz für Firmenansiedlungen und Existenzgründungen sein.

 

Für die Berufsschulen ist es wichtig, dass betriebliche Ausbildungsentscheidungen verlässlich, transparent und vorhersehbar sind, und dass auch die Betriebe, die über eine Ausbildungsberechtigung verfügen, tatsächlich ausbilden. Ob durch eine bundesgesetzliche Verankerung oder eine Bundesförderung der Berufsschulen aufgrund einer stabileren Autonomie größere berufsschulische Interventionen in den regionalen Ausbildungsmarkt möglich sind, ist zu prüfen.   

 

Nicht nur für die betriebliche Ausbildung, sondern auch für die Berufsschulen be­steht offenbar ein erheblicher Digitalisierungsdruck, was u.a. zu einer Reihe von Landes- und Bundesprogrammen zur Förderung digitaler Kompetenzen geführt hat. Wie reagieren Ihres E. Berufsschulen auf diese Her­ausforderung und was empfehlen Sie ihnen?

 

Digitalisierung ist auch ein Zauberwort, wenn es um die Aufwertung der Berufsschulen geht. Sie sollen sich durch Digitalisierung den Entwicklungen in Richtung Industrie 4.0 oder Arbeit 4.0 anpassen. Digitalisierung soll zum Bestandteil von Schulentwicklung und Qualitätsentwicklung werden, damit sich Berufsschulen mit ihren Kooperationspartner_innen digital vernetzen können. Gleichzeitig sollen die Außendarstellung und Attraktivität der digitalisierten Berufsschulen in der Region verbessert werden. Möglichkeiten der Digitalisierung sollen umfassender genutzt werden, den Anforderungen neuer IT-Berufe entsprechend sollen sich Berufsschulen auf digitale Inhalte einstellen. Vor allem soll der Unterricht mit digitalen Medien ausgestattet werden, damit dieser digitalisiert durchgeführt werden kann. Online-Lernsysteme soll es den Schüler_innen ermöglichen, orts- und zeitunabhängiger zu lernen. Fraglich ist, ob und inwieweit eine pauschale und flächendeckenden Top-Down-Versorgung des berufsbildenden Schulwesens mit modernster digitaler Infrastruktur sinnvoll ist, oder ob nicht neben einer Grundausstattung eine problem-, projekt- oder bedarfsbezogene Versorgung mit digitalen Medien anzustreben wäre, verbunden mit der Notwendigkeit, dass berufsschulische Akteur_innen digitale Nutzungsoptionen kennen und differenzieren können.

 

Eine besondere Herausforderung der Digitalisierung der Berufsschulen besteht darin, dass sie auf der Basis von Erfahrungen und Expertisen ihrer Akteur_innen im Binnenraum Schule und auch in der Kooperation nach außen abwägen, welche Bedeutung Digitalisierung für die Berufsschulen im Kontext ihrer Schulentwicklung und regionalen Positionierung hat, und vor allem, welche sozialen und individuellen Vorteile sich für die Schüler_innen durch welche Formen der Digitalisierung ergeben. Schließlich darf sich Digitalisierung im Bildungsbereich nicht auf die materielle Aneignung und Implementation hightechnischer Ressourcen reduzieren, um die Techniknutzung in der Schule soweit wie möglich zu optimieren. Vielmehr sind Schulen vor dem Hintergrund ihres Bildungsverständnisses gefordert, Digitalisierung als gesellschaftlich-ökonomischen Prozess zu vermitteln, ein kritisch-konstruktives Verständnis von Entwicklung und Einsatz digitaler Technik sowie die Reflexion sozialer, individueller und ökologischer Folgen zu fördern. Dabei sind auch Fragen der Mediendidaktik zu stellen, um Medien so einzusetzen, dass sie bildungs- und lernförderlich sind und zu einem kompetenten und kritisch-reflektierenden Umgang damit befähigen. Vor diesem Hintergrund erfordert Digitalisierung in der dualen Ausbildung die Kooperation zwischen den beiden Lernorten auf der Grundlage ihres gemeinsamen Bildungs- und Erziehungsauftrages, die sich nicht nur auf die Abstimmung über technische Anschaffungen reduziert, sondern vor allem auch die Frage nach (berufs-)pädagogisch sinnvoller Implementation und Nutzung von digitalen Medien berücksichtigt. In verschiedenen Bundesländern wird insbesondere von Seiten der Wirtschaftsministerien die Digitalisierung in berufsbildenden Schulen vorangetrieben. Es wäre interessant, sich über Erfahrungen bei den Implementationsprozessen auszutauschen, insbesondere hinsichtlich der Aspekte Schulentwicklung, Unterrichtsgestaltung, Lernverhalten Schüler_innen und Anforderungen an die Lehrer_innen.

 

Für Ihre Expertise haben Sie auf viele Quellen und Materialien der Berufsschul- und Berufsbildungs- sowie Arbeitsmarkt- und Berufsschulforschung zurückgegriffen. Bei welchen Hintergrundinformationen wurden Sie insgesamt und am meisten fündig?

 

Fündig wurde ich bei den Statistischen Bundes- und Landesämtern und auf den Internetseiten von Kultus- und Wirtschaftsministerien und einzelnen berufsbildenden Schulen. Diese Seiten sind nützlich, wenn man quantitative Entwicklungen nachzeichnen möchte und nach aktuellen Reforminitiativen sucht. Fündig wird man auch in kommunalen Tageszeitungen. Hier erfährt man Einiges darüber, wie beispielsweise in einer Stadt über eine Berufsschule geredet wird, wie sie sich selber darstellt oder wie sie um den Erhalt ihrer Schule kämpft. Besonders wichtig für mich waren Regionalstudien, die darauf eingehen, welche Bedeutung berufsbildendende Schulen in regionalpolitischen Kontexten haben, und welchen Einfluss sie auf das regionale Ausbildungsmarktgeschehen nehmen. Allerdings gibt es hierzu sehr wenige aktuelle Arbeiten. In den 1990er Jahren wurde hierüber im Zusammenhang mit der Regionalisierung der beruflichen Bildung mehr diskutiert und geforscht. Insgesamt gibt es in der Berufsschulforschung einen sehr großen Forschungsbedarf, zumal sich Berufsschularbeit nicht nur auf die reine Unterrichtstätigkeit konzentriert, sondern auch mit (berufs-)bildung- und regionalpolitischer Verantwortung verknüpft ist.   

 

 

 

...zum Weiterlesen:     Karin Büchter: Berufsschulen in der dualen Ausbildung und regionalen Wirtschaft. Gleichberechtigte Partnerschaft durch Reformen? Working Paper Forschungsförderung Nummer 059, März 2018. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2018, ISSN 2509-2359, bzw. Friedrich-Ebert-Stiftung Wiso Diskurs 05/2018.

 

 

Wer ist Karin Büchter?  Dr. Karin Büchter ist Professorin für Berufs- und Betriebspädagogik in der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und forscht zur Geschichte beruflicher Bildung und Weiterbildung, zur betrieblichen Bildung sowie zum Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung. Sie arbeitet mit im wissenschaftlichen Beraterkreis der Bildungsbereiche von ver.di und IG Metall.

 

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