
Denk-doch-Mal.de | Ausgabe 02-25
Berufs- und erwerbsbiografische Orientierungen im Lebenslauf
Berufe verändern sich aufgrund von Digitalisierung, KI und ökologischer Transformation. Teils werden sie nicht mehr nachgefragt, teils werden Berufe neu geordnet und weiterentwickelt. Berufsausübung und Erwerbsarbeit werden nicht allein am Einkommen, sondern auch an ihrer Sinnhaftigkeit bemessen. Lebensweltliche Interessen bekommen ein anderes Gewicht.
Jugendliche verfügen heute an der Schwelle zwischen Schule und Ausbildung bzw. Studium über eine Vielzahl von individuell kaum noch überschaubaren Möglichkeiten und damit auch über vielfältige Chancen für die Gestaltung ihrer Zukunft. Zugleich resultieren aus der Vielzahl von Wahlmöglichkeiten Informations- und Orientierungsbedarfe, Unsicherheiten und Risiken.
Der Übergang von der schulischen Bildung in eine berufliche Ausbildung oder ein Studium, die sogenannte erste Schwelle, ist oftmals und beharrlich mit der Erwartung verbunden, dass es sich hierbei um einen Übergang handelt, der den weiteren Lebensverlauf bestimmt. Doch auch mit der zweiten Schwelle, dem Übergang in die Erwerbsarbeit, ist der Prozess nicht abgeschlossen. Er erstreckt sich inzwischen über die gesamte Erwerbsarbeit bis in die Nacherwerbsphase und teils bis ins fortgeschrittene Alter. Berufsorientierung und berufsbiografische Entscheidungen werden Teil des Erwerbslebens.
Leiten lassen wir uns in der neuen Ausgabe von DENK-doch-MAL erstens von der These, dass sich die Konzepte, die der Berufsorientierung zugrunde liegen, erweitern müssen. Inhaltlich geht es darum, dem Stellenwert von berufsbiografischen Kompetenzen einen größeren Stellenwert zukommen zu lassen. Es geht um die Frage, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit sich Schüler*innen, Auszubildende und Beschäftigte ihrem Lebensalter und ihrer Lebenssituation entsprechend gestaltend mit diesen Themen auseinandersetzen können.
Zweitens sind wir der Meinung, dass Berufsorientierung einer strukturellen Erweiterung bedarf, nämlich der Erweiterung auf das gesamte Erwerbsleben, vielleicht sogar darüber hinaus, wenn man an die Chancen und Anforderungen denkt, die sich für Personen jenseits der Erwerbstätigkeit ergeben. Deshalb stehen "die berufs- und erwerbsbiografischen Orientierungen im Lebenslauf", beginnend im schulischen Bereich, in der Ausbildung und im Beschäftigungsprozess in Form von Weiterbildung und Berufsberatung im Vordergrund der folgenden Beiträge.
Es sind Fragen zu beantworten:
- Wie kann die Gesellschaft dafür sorgen, dass alle Jugendlichen einen Schulabschluss und einen Ausbildungsplatz bekommen können?
- Wie werden daraus realistische Beschäftigungsperspektiven?
- Wie können Schule und Gesellschaft Jugendliche und Beschäftigte auf Berufswahl, Veränderungen im Erwerbsleben und damit verbundene Entscheidungen vorbereiten?
- Welchen Stellenwert haben die Interessen und Bedürfnisse der Lernenden?
- In welchem Verhältnis stehen sie zu der übermächtigen Dominanz von ökonomisch und technologisch begründeten, scheinbar objektiven Anforderungen an berufliche Qualifizierung?
- Wie können Lernende mit den mit diesen Prozessen verbundenen Lernzumutungen umgehen?
Was können Leser*innen von den Beiträgen erwarten? Wir können nur einen Teil dieser Fragen beantworten. Für die dafür vorgetragenen Beiträge danken wir unseren Expert*innen.
Daniela Ahrens befasst sich mit der Bedeutung der Lebenswelten der Jugendlichen für Berufsorientierung. Zudem spricht sie sich dafür aus, schulische Berufsorientierung und nachschulische Beratungskonzepte nicht zu vermischen. Sie plädiert für eine stärkere Subjektorientierung und dafür, "nicht kognitive Aspekte wie Motivation und lebensweltliche Handlungsmuster stärker in die schulische Berufsorientierung zu integrieren."
Die schulische Berufsorientierung steht auch im Zentrum des Beitrags von Claudia Kalisch. Sie setzt sich sowohl wissenschaftlich wie auch durch ihre Lebenssituation als Mutter zweier schulpflichtiger Kinder mit den Rahmenbedingungen, Ansatzpunkten und Perspektiven der Berufsorientierung in Mecklenburg-Vorpommern auseinander. Die vorhandenen Strukturen der schulischen Berufsorientierung werden gewürdigt. Für die weitere Zukunft macht Claudia Kalisch Vorschläge, z.B. die professionelle Unterstützung bei Schulentwicklungsmaßnahmen, die Anerkennung regionaler Disparitäten, mehr finanzielle Mittel für Schulen auf dem Land und den kontinuierlichen Austausch der beteiligten Akteure*innen.
Uwe Elsholz und Helena Kaiser setzen an der zunehmenden Individualisierung von Arbeit und Gesellschaft an und befassen sich mit den Defiziten der traditionellen schulischen Berufsorientierung. "Heute" - so eine zentrale Aussage - "erfordert die Berufsorientierung keine einmalige Entscheidung, sondern vielmehr eine ständige Reflexion der eigenen Fähigkeiten, Stärken und Interessen." Sie schlagen vor, Berufsorientierung als Teil eines lebensbegleitenden Prozesses als zentrale "Future Skill" zu verstehen, in deren Zentrum die berufsbiografische Gestaltungskompetenz steht.
Einer der Ausgangspunkte des Beitrags von Axel Bolder resultiert aus der Frage, warum so viele Appelle für mehr berufliche und betriebliche Weiterbildung ins Leere laufen. Es geht um die Frage, warum Menschen möglicherweise nicht lernen wollen, zumindest nicht so, wie das gesellschaftliche Institutionen von ihnen erwarten. Hierbei steht im Zentrum der "Widerstand gegen Lernzumutungen", der in einem doppelten Sinne als "subjektives Wissensmanagement" verstanden werden kann. Zum einen als subjektiv rationaler Umgang mit den eigenen Ressourcen, indem die mit zusätzlichen Lernanstrengungen verbundenen Kosten und Risiken bilanziert werden. Zum anderen aber auch im Sinne alternativer Strategien des Erwerbs, des Nutzens und der Sicherung von Wissen. Axel Bolder hat DENK-doch-MAL einen früheren, hier leicht veränderten Text zur Verfügung gestellt.
Jeanette Schnell fragt nach den Erfordernissen der Weiterentwicklung von Berufsorientierung an der ersten Schwelle zwischen Schule und Berufsbildung. Die strukturellen und aktuellen Rahmenbedingungen des Beschäftigungssystems machen eine Reihe von Kompetenzen notwendig. Die Lehrkräfte sollten ausreichend qualifiziert werden und die Schulen materiell entsprechend ausgestattet sein. Berufsorientierung ist an den Lebenswirklichkeiten der Schüler*innen auszurichten und dürfe nicht ausschließlich von den Anforderungen des Arbeitsmarktes bestimmt sein. Berufsorientierung benötigt Praxisbezug und entsprechende Erfahrungen aus der Arbeitswelt. Kritisch setzt sich Jeanette Schnell mit dem mehrdeutigen und verschiedentlich politisch missbrauchten Begriff der "Ausbildungsreife" auseinander. Sie schlägt stattdessen vor, die "Berufswahlkompetenz" ins Zentrum der Förderung zu rücken.
Anne Heusler, Julia Lang, Christian Sprenger und Gesine Stephan stellen das Angebot der "Berufsberatung im Erwerbsleben" vor, ein seit 2020 von der Bundesagentur für Arbeit angebotener neuer Service. Die Autor*innen beziehen sich dabei auf die Ergebnisse einer ersten Evaluierungsphase. Das neue Angebot richtet sich u.a. an Beschäftigte und Wiedereinsteigende. Es ergänzt die Beratungsangebote der "Berufsberatung vor dem Erwerbsleben", die maßgeblich die schulische Berufsorientierung und die Jugendberufsagenturen im Blick haben. Die Bundesagentur verfügt damit um ein umfassendes Angebot einer (erwerbs-)lebensbegleitenden Berufsberatung.
Gabriele Molzberger und Bernd Kaßebaum widmen sich dem Konzept der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung in der Schweiz. Ziel ist es dort, Jugendliche und Erwachsene in den Berufswahl- und Studienwahlprozessen zu unterstützen und Anlaufstellen in allen Fragen der beruflichen Laufbahn zu etablieren. Attraktiv sind die integrativen Ansätze zwischen beruflicher und hochschulischer Beratung einerseits und ein Verständnis von Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung von der Primarschule, über den Berufseinstieg und längs des beruflichen Werdegangs. Anhand des aktuellen statistischen Jahresberichts werden die Strukturen, Instrumente und Zielgruppen vorgestellt und berufsbildungspolitisch diskutiert. Ein besonderes Augenmerk wird am Beispiel von "viamia", einem Beratungsangebot für ältere Erwachsene, auf das Verhältnis von privatwirtschaftlichen und öffentlich verankerten Angeboten gelegt. Zudem wird das einheitliche Qualifizierungskonzept für die sog. BSL-Berater*innen sowie neuere Überlegungen zum Kompetenzverständnis vorgestellt.
Einen anderen, durch die langjährige Praxis erfahrungsgesättigten Blick auf Berufsorientierung und Berufsvorbereitung erhält man über die Arbeit eines renommierten regionalen Bildungsträgers. DENK-doch-MAL durfte ein intensives Gespräch mit Jovana Kartal und Gerd Specht vom Bildungsträger RE/init führen. Der Bildungsträger RE/init e. V. verfolgt das Ziel, in der Region Emscher-Lippe Menschen in "besonderen Lebenslagen" zu unterstützen und mit ihnen eine persönliche sowie berufliche Perspektive zu entwickeln. Das Gespräch ist voller Anregungen. Seien es Erfahrungen aus der täglichen Arbeit, Hinweise auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen oder Vorschläge, um die Nachhaltigkeit der Arbeit zu verbessern.
Einem anderen, nicht minder bedeutsamen Praxisfeld widmet sich Michael Svoboda, Projektberater für das vom BMBF geförderte ver.di-Weiterbildungsmentoren-Projekt mendi.net. Die Weiterbildungsmentoren, die DENK-doch-MAL bereits 2022 in der Entstehungsphase vorgestellt hat (vgl. https://denk-doch-mal.de/ausgaben/01-22-foerderung-der-betrieblichen-weiterbildung-durch-weiterbildungsmentoren/), gehen auf eine Initiative von ver.di und IG Metall zurück. Auf Basis der Projekterfahrungen schlägt der Autor für das Selbstverständnis der Mentoren*innen vor, dass diese sich im Rahmen der personenbezogenen Weiterbildung als Bindeglied zwischen betrieblichem und außerbetrieblichem Bildungsangebot und den Beschäftigten verstehen. Als "Experten*innen in eigener Sache" hofft er, dass Weiterbildungsmentor*innen positive Impulse für eine größere Weiterbildungsbeteiligung insbesondere der sog. bildungsbenachteiligten Beschäftigten geben können. Wir hoffen, die Leser*innen dieser Ausgabe finden in diesen Beiträgen viele Anregungen, Informationen und Diskussionsanreize. Ein herzlicher Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die DENK-doch-MAL in vielen Stunden ehrenamtlicher Arbeit mit ihren interessanten Beiträgen, ihrem Wissen und ihren vielen Hinweisen unterstützt haben. Wir möchten auch auf die letzte Ausgabe verweisen. Dort setzte sich DENK-doch-MAL mit der Weiterbildungsförderung von Beschäftigten durch die BA auseinander.
Unseren Leser*innen wünschen wir eine anregende Lektüre.