BILDUNGSGIPFEL | Schule
Heute Hauptschüler - für immer Unterschicht
SPIEGEL ONLINE: Frau Kloepfer, Bildung gehört seit einiger Zeit zu den politischen Top-Themen. Auch Kanzlerin Angela Merkel spricht von der "Bildungsrepublik Deutschland" und lädt zum "Bildungsgipfel" ein. Sie sagen aber, dass die wirklich großen Probleme in den Schulen noch gar nicht angepackt, geschweige denn gelöst worden sind. Wie kommen Sie darauf?
Kloepfer: Schule müsste einen neuen, erweiterten Auftrag bekommen. Im heutigen Unterricht geht es vor allem darum, kognitive Fähigkeiten zu vermitteln, die Kinder trainieren abfragbare Leistungen. Das genügt nicht mehr. Wirklich erfolgreich können Schulen nur dann sein, wenn sie auch erziehen.
SPIEGEL ONLINE: Die vehemente Bildungsdiskussion begann mit dem Pisa-Schock, der vor allem gezeigt hat, dass die Schülerleistungen nicht gut genug waren und sind. Und nun sagen Sie, das ist gar nicht das Problem.
Kloepfer: Was ist denn die Voraussetzung für Leistungsfähigkeit, angefangen in der Grundschule? Emotional unterversorgte und auch schlecht erzogene Kinder haben große Mühe damit, Wissen aufzunehmen und Leistung zu bringen. Die Schulen müssen sich auf andere Weise kümmern als bisher, damit sie mehr Erfolg haben. Wir brauchen im gesamten Bildungssystem eine Niveauverschiebung nach oben: Alle müssen sehr viel mehr können, nicht nur die Spitzenschüler.
SPIEGEL ONLINE: Erziehung ist doch eigentlich Elternsache, nicht Aufgabe der Schulen.
Kloepfer: So einfach ist das heute nicht mehr - vor allem nicht in Schichten, denen es materiell nicht gut geht und in denen es den Eltern auch an Bildung und Perspektive fehlt. Da sind viele Eltern überfordert. Man kann natürlich sagen: Nicht unser Problem, was kümmert uns das? Aber es handelt sich leider inzwischen um ein Massenphänomen, und deshalb geht es doch uns alle an.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch über den "Aufstand der Unterschicht" entwerfen Sie ein düsteres Zukunftsszenario: Darin gehören mindestens 20 Prozent der Deutschen zu einer Unterschicht, die ihr ganzes Leben lang von Sozialleistungen abhängig ist. Die Kriminalität breitet sich im Land wie eine Seuche aus, davor schützen die Wohlhabenden sich mit immer rigideren Methoden. Das klingt nach professioneller Schwarzmalerei.
Kloepfer: So weit weg sind wir davon wirklich nicht. Diese 20 Prozent habe ich aus den Pisa-Ergebnissen und aus Unternehmensstudien errechnet. Die Menschen, um die es geht, sind alle schon geboren, sie gehen vor allem in die Hauptschulen, sie kriegen keine vernünftige Ausbildung, sie landen als junge Leute im Sozialsystem - praktisch ohne Chance, wieder herauszufinden. Sie gehören vielleicht heute noch nicht zur Unterschicht, rutschen aber fast zwangsläufig hinein. Ich habe mir viele Schulen angeschaut und bin zum Teil völlig entsetzt wieder herausgekommen, entsetzt über die geballte Hoffnungslosigkeit.
SPIEGEL ONLINE: Woher nehmen Sie die Gewissheit, mit der Sie Aussagen über das Jahr 2020 treffen?
Kloepfer: Wenn wir nicht gegensteuern, wird es so kommen. Es sind ja nur noch zwölf Jahre! Als Ökonomin sage ich Ihnen: Im globalen Wettbewerb ist Deutschland gezwungen, immer noch ein Stück produktiver zu werden, und zwar ein ziemlich großes Stück. Ein Land ohne Rohstoffe hat keine andere Chance, zumal die Bevölkerung immer älter wird und die Renten bezahlt werden müssen. Das bedeutet auch: Jobs für Geringqualifizierte bleiben Mangelware. Die 20 Prozent Chancenlosen können wir uns nicht leisten.
SPIEGEL ONLINE: Wie vergleichsweise schnell sich die Dinge ändern können, sehen wir an der Arbeitslosenstatistik: Die sieht zur Zeit so gut aus wie seit vielen Jahren nicht mehr!
Kloepfer: Am heutigen Arbeitsmarkt lässt sich genau ablesen, worum es mir geht. Es gibt offene Stellen zuhauf, nicht nur für Ingenieure, auch in Ausbildungsberufen. Aber für diese Stellen muss man qualifiziert sein, das ist der Punkt. Weil zu viele junge Leute in den Schulen nicht lernen, was sie lernen müssten, haben wir gleichzeitig Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel. Ein Irrsinn.
SPIEGEL ONLINE: Was muss konkret im Bildungssystem getan werden?
Kloepfer: Die Veränderungen müssen in der Lehrerausbildung beginnen. Die erzieherische Kompetenz der Pädagogen muss deutlich gestärkt werden. Das würde sie auch besser als bisher in die Lage versetzen, mit den oft sehr unterschiedlichen Begabungen in einer Klasse zurechtzukommen, mit dem Ziel, dass schwache Schüler gestärkt werden, ohne dass die starken darunter leiden. Entscheidend ist, was im Unterricht passiert, erst dann kann man sinnvoll über die großen Strukturfragen nachdenken. Wobei ich schon glaube, dass wir sehr viel mehr Abiturienten brauchen als bisher. Und niemand kann mir erzählen, dass das automatisch mit einem Niveauverlust einhergeht. Das ist eine Legende.
SPIEGEL ONLINE: Stehen dahinter nicht romantische Träume von einer Gleichheit aller, die es nie gab und nie geben wird?
Kloepfer: Es geht um die Gleichheit der Chancen, nicht um die Gleichheit der Ergebnisse. Jeder sollte die Chance bekommen, das Abitur zu machen. Heute ist das aber de facto nicht der Fall. Dass am Ende Abitur nicht gleich Abitur ist, liegt ja auf der Hand, dafür gibt es schließlich Noten.
SPIEGEL ONLINE: Als Ökonomin wissen Sie doch ganz genau, wie teuer eine solche Bildungsoffensive wird. Viele werden sagen: unbezahlbar!
Kloepfer: Da muss die Politik Schwerpunkte setzen. Schließlich hat sie eine Optimierungsaufgabe. In Bildung investiertes Geld bringt die höchste Rendite für die Gesellschaft. Was wir jetzt sparen, müssen wir morgen doppelt und dreifach bezahlen, in Form von Sozialhilfe oder Verbrechensbekämpfung.
ZUR PERSON
Inge Kloepfer, Jahrgang 1964, studierte Volkswirtschaft und Sinologie und schreibt seit 1992 für die Wirtschaftsredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". In ihrem neuen Buch "Aufstand der Unterschicht" zeigt sie, warum es sich lohnt, in die Potenziale vermeintlicher Verlierer zu investieren. 2005 wurde Kloepfer als "Wirtschaftsjournalistin des Jahres" ausgezeichnet. Sie hat drei Kinder zwischen acht und elf Jahren und lebt in Berlin. Kloepfer: Schule müsste einen neuen, erweiterten Auftrag bekommen. Im heutigen Unterricht geht es vor allem darum, kognitive Fähigkeiten zu vermitteln, die Kinder trainieren abfragbare Leistungen. Das genügt nicht mehr. Wirklich erfolgreich können Schulen nur dann sein, wenn sie auch erziehen.