Das Praxisbeispiel Dillinger Hütte: Lernen in der Arbeit
Lernen im Prozess der Arbeit - geht das überhaupt und wie macht man das eigentlich?
Die Dillinger Hütte im Saarland hat mit dem Thema inzwischen viele Erfahrungen gesammelt. Der führende Grobblechhersteller in Europa hatte keine Wahl: Die Qualifikation möglichst aller Beschäftigten musste angehoben werden. Diese Wissen war der Ausgangspunkt für eine Reihe von Weiterbildungs-Programmen. WAP berichtet über das erfolgreiche Betriebs-Beispiel.
Im Jahr 1685 gegründet, ist die Dillinger Hütte die älteste bestehende Aktiengesellschaft Deutschlands. Die Dillinger Hütte ist führender Grobblechhersteller in Europa. Zusammen mit den Tochtergesellschaften Zentralkokerei Saar GmbH (Anteil DH: 50 %) und ROGESA Roheisengesellschaft Saar mbH (Anteil DH: 50 %) ist sie ein modernes integriertes Hüttenwerk mit Kokerei, Hochofenanlagen, Stahlwerk, Grobblechwalzwerk und weiterverarbeitenden Werkstätten. Am Standort Dillingen beschäftigt sie rund 5.400 Mitarbeiter.
Das Qualifikationsniveau ist kontinuierlich gestiegen, der Anteil der un- und angelernten Beschäftigten nimmt kontinuierlich ab.Die Einführung eines Qualifizierungsprogramms und ein Modellversuch zur Automatisierungstechnik, gefördert von der damaligen Bundesregierung, Anfang der 1980er Jahre legten den Grundstein für eine systematische Weiterbildung bei der Dillinger Hütte. Ein weiterer Schub erfolgte Anfang der 1990er Jahre. Seitdem ist die Weiterbildungsbeteiligung kontinuierlich gestiegen. Lag die Zahl der Weiterbildungsteilnehmer Anfang der 1990er Jahre noch bei ca. 1.500 Teilnehmern im Jahr, stieg diese auf Spitzenwerte bis zu fast 11.000 Teilnehmer jährlich an.
Eine systematische Weiterbildung bedeutet dabei ein Set von unterschiedlichen Maßnahmen:
* Es wird ein jährliches Weiterbildungsangebot von der Weiterbildungsabteilung erstellt. Früher war dies angebotsorientiert, mittlerweile herrscht eine Nachfrageorientierung vor. Damit ist gemeint, dass das Angebot auf der Grundlage der Bedarfe, die aus den Betrieben gemeldet werden, geplant wird. Zudem werden die Betriebe bei der Konzeption der Maßnahmen mit eingebunden.Das Weiterbildungsangebot steht allen Beschäftigten offen. Wollen Beschäftigte an einer Maßnahme teilnehmen, teilen sie dies ihrem Vorgesetzten mit, der dies an die Weiterbildungsabteilung weitergibt. Interne Schulungen haben Priorität: das bedeutet auch, dass von der Weiterbildungsabteilung wann immer möglich, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens als Referentin oder Referent gewonnen werden. Damit ist gewährleistet, dass betriebsspezifisches Wissen und die daraus resultierenden Erfahrungen weitergegeben werden. Zudem fördert dies die Akzeptanz der Maßnahmen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
* Seit Ende der 1980er Jahre besteht ein Programm für die Führungskräfteweiterbildung. Dieses Programm beinhaltet Themen zu den Grundlagen und speziellen Leitungsaufgaben, wie z.B. Führung und Arbeitssicherheit, Kostenrechnung oder Arbeitsrecht, Angebote zu Schlüsselqualifikationen wie z. B. Zeitmanagement, Moderation oder Rhetorik, und Angebote zur Mitarbeiterführung wie z. B. das Mitarbeitergespräch. Neben diesen Angeboten gibt es einige obligatorische Weiterbildungsmaßnahmen für Führungskräfte, wie z. B. Arbeitssicherheit. Die Teilnahmequote beträgt hier nahezu 100 %.
* Die seit 2008 geführten Mitarbeitergespräche, in denen die Förderung und Entwicklung der Mitarbeiter ein Hauptbestandteil darstellt, betrifft auch das Thema Weiterbildung. Sie werden jährlich für alle Beschäftigten bis zur Ebene der Vorarbeiter durchgeführt. Die Gespräche haben mittlerweile eine große Akzeptanz, die Durchführungsquote liegt bei ca. 90 % bis 95 %. Dieser Erfolg ist darauf zurückzuführen, dass die Implementierung von einer Reihe flankierender Maßnahmen begleitet wurde. Hierzu gehören zum Beispiel die Erstellung eines Handbuchs, einer Schulung für die Vorgesetzen und Informationsveranstaltungen für die Beschäftigten.
Besondere Beachtung finden in der Weiterbildungsabteilung der Dillinger Hütte auch neue Lernformen, die Arbeiten und Lernen verbinden. Seit dem Jahr 2009 wird das Projekt "Lernen während der Arbeit" für Beschäftigte aus dem Produktionsbereich in einem Pilotbetrieb mit 120 Beschäftigten durchgeführt. Hintergrund für dieses Projekt war die Rückmeldung aus dem Betrieb, dass neu eingestellte Facharbeiter zwar über die fachlichen Voraussetzungen verfügen, nicht aber über das Wissen um die spezifischen betrieblichen Abläufe.
In dem Betrieb besteht daher der Wunsch nach einem strukturierten Einarbeitungsprozess für neu eingestellte Beschäftigte, der sowohl einen sukzessiven Prozess der Wissensvermittlung von Erfahrungen für den neuen Mitarbeiter beinhalten soll, als auch das Bewusstwerden des Einzelnen auf Arbeitssicherheit und der Notwendigkeit des Lebenslangen Lernens. In der Weiterbildungsabteilung wurde parallel dazu diskutiert, wie und welche innovativen Instrumente installiert werden können, die das betriebs- und praxisnahe Wissen unterstützen und vermitteln, um dem im Zuge des demografischen Wandels bedeutsamer werdenden Problem des Wissenserhalts im Betrieb zu begegnen.
Entwickelt wurde daraufhin ein Lernkonzept mit dem Ziel, die Handlungskompetenz der Mitarbeiter zu fordern, fördern und zu sichern.
Merkmale dieses Lernkonzepts sind: den Wissenstransfer systematisch zu organisieren, das alltägliche, unbewusste Lernen zu unterstützen, den Erfahrungsaustausch zwischen den Beschäftigten zu fördern und das gemeinsame Lernen weiter zu entwickeln. Dabei sollen die Beschäftigten unmittelbar mit einbezogen werden. Zudem soll erreicht werden, Lernphasen mit Arbeitsphasen zu verbinden. Die Förderung der Selbstständigkeit und die Eigenverantwortung für Lernprozesse der Beschäftigten stehen dabei im Vordergrund, das bedeutet vor allem, dass die Beschäftigten selber entscheiden, welche Lernform für sie die geeignete ist.
Zur Umsetzung dieses Konzepts wurden zunächst Auftaktworkshops mit allen Mitarbeitern des Betriebes durchgeführt, in denen gemeinsam eine Tätigkeitsanalyse durch die Mitarbeiter gemacht wurde. In diesem Schritt wurde ersichtlich, welche lern- und kompetenzfördernde Kriterien vorhanden sind und anschließend verglichen, welche Kompetenzen vorhanden bzw. zu berücksichtigen sind. So wurden verschiedene Lernformen vorgestellt und diskutiert, welche für den Betrieb geeignet sind. Die Mitarbeiter bewerteten die Lernformen und stuften sie in ihrer Machbarkeit ein. Die Beschäftigten haben sich v. a. für die Lernform Lerntandem entschieden, d. h. Teams von Beschäftigten, die alters-, bereichs-, und betriebsheterogen sind, arbeiten gemeinsam an einen Projekt und lernen damit gemeinsam und voneinander.
Die entstandenen Lerntandems sind formalisiert, d. h. es bestehen feste Lernpartnerschaften. Der Wissenstransfer erfolgt als Lernen im Arbeitsprozess. Dieser erfolgt auf der Grundlage eines systematischen Planungsprozesses, der eine Reflexion der Arbeitsschritte am Arbeitsplatz und eine Dokumentation von vorformulierten Zielen und Beschreibungen beinhaltet. Die Lernergebnisse werden in einem Lernalbum festgehalten. Dieses dient der Transparenz der Lernprozesse und als Nachschlagewerk.
Die Weiterbildungsabteilung sorgte für die notwendigen Voraussetzungen für den Lernprozess. Hierzu gehört mitunter die Einrichtung eines Lernraumes mit Ausstattung wie z. B. Computer oder einer Bibliothek, in der die Beschäftigten während der Arbeitszeit gemeinsam lernen können.
Ungefähr ein Viertel der Beschäftigten des Betriebes nehmen an dem Projekt teil. Von diesen wird das Projekt angenommen und positiv eingeschätzt, es fördert die Motivation zu lernen, da es um die Vermittlung anwendungsbezogenen Lernens geht, es können auch Lösungen für schichtübergreifende Probleme gefunden werden und das gegenseitige Verständnis wird gefördert und dadurch Vertrauen erzeugt.
Die Rückmeldung aus dem Betrieb zu dem Projekt ist ebenfalls durchaus positiv: der Produktionsablauf ist insgesamt "runder" geworden. Auch das Weiterbildungsverhalten des Betriebes hat sich positiv entwickelt. Derzeit wird eine spezifische Schulung für die Beschäftigten in den Lerntandems entwickelt.
Aufgrund der positiven Einschätzung ist die Ausweitung des Projektes auf weitere Betriebe vorgesehen. Einer Ausweitung auf das gesamte Unternehmen steht jedoch der Betreuungsaufwand entgegen, den Lernformen, die Arbeiten und Lernen miteinander verbinden, mit sich bringen. Es bedarf Unterstützung bei der Vermittlung von Techniken des Lernens ebenso wie die Motivation zur Weiterarbeit, was derzeit noch von der Weiterbildungsabteilung geleistet wird, zukünftig aber von anderen Abteilungen mit geleistet werden soll.
Eingebunden ist dieses Projekt in ein Gesamtkonzept zur Förderung der Weiterbildungsbeteiligung.