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Die gespaltene Gesellschaft

Entwicklungen in der Berufliche Bildung und Weiterbildung

11.10.2018 Ι Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass ein mittlerer Schulabschluss oder sogar die Hochschulreife zur mehr oder weniger obligatorischen Zugangsvoraussetzung für eine betriebliche oder (vollzeit-) schulische Berufsausbildung wird.

Von: Prof. Dr. Andrä Wolter (Professor für erziehungswissenschaftliche Forschung)
Erschienen in DENK-doch-MAL 04-2018

 

Die soziale Selektion zeigt sich in der beruflichen Bildung  zum einen in der Verteilung der Jugendlichen zwischen den drei (nicht-akademischen) Ausbildungssektoren, dem dualen System, dem Schulberufssystem (u.a. Berufsfachschulen, Schulen des Gesundheitswesens) und dem Übergangssektor, zum anderen in der Zuweisung zu bestimmten Berufsbereichen.

 

Der Übergangssektor umfasst diejenigen - heterogenen - Einrichtungen, Programme und Maßnahmen, die sich primär an benachteiligte bzw. leistungsschwächere Jugendliche richten, die nach Schulabschluss keinen Zugang zu einem der anderen beiden Sektoren finden. Er dient hauptsächlich der Berufsvorbereitung oder Nachqualifizierung, vermittelt aber keinen anerkannten Berufsabschluss.

 

Insofern "fängt" der Übergangssektor in erster Linie diejenigen Jugendlichen auf, die in den vollqualifizierenden Sektoren unseres Ausbildungssystems keinen Platz finden. Im Jahr 2005 mündeten noch 36 % der Jugendlichen nach Schulabschluss (ohne Studienanfänger/innen) in den Übergangssektor ein. Der Anteil sank zeitweilig auf etwa ein Viertel und stieg in den letzten Jahren wieder auf 30 % an, ein Effekt der starken Zuwanderung. Ca. 60 % der Jugendlichen aus dem Übergangssektor gelingt nach einer oder mehreren Maßnahmen noch der Zugang zu einer vollqualifizierenden Ausbildung.

 

Die anderen stellen den Hauptanteil derjenigen, die dauerhaft ohne Berufsabschluss bleiben und die wichtigste Problemgruppe des deutschen Arbeitsmarktes bilden - in den jüngeren Alterskohorten, die sich nicht mehr im Bildungssystem befinden, immerhin um die 15-18 %. Sie bleiben ohne langfristige Berufs- und Beschäftigungsperspektive, viele von ihnen arbeitslos, im Niedriglohnsektor oder in prekärer Beschäftigung.

 

Die Wahrscheinlichkeit, nach Beendigung des Schulbesuchs in den Übergangssektor einzumünden, hängt vor allem mit zwei sozialen Faktoren zusammen, dem Schulabschluss (und den Schulleistungen) und dem Migrationsstatus. Beide zeigen, dass sich dieser Sektor in erster Linie an schulisch und/oder gesellschaftlich Benachteiligte richtet. Etwa zwei Drittel der Neuzugänge im Übergangssektors rekrutieren sich im Jahr 2016 aus Schulabgängern/innen mit maximal Hauptschulabschluss; bei gut 13 % ist die Vorbildung unbekannt, vermutlich handelt es sich überwiegend um Flüchtlinge. Mit beinahe 40 % sind unter den Neuzugängen im Übergangssektor Jugendliche mit ausländischer Staatsangehörigkeit deutlich überrepräsentiert. Das bedeutet, dass Jugendliche mit höchstens einem Hauptschulabschluss und/oder MH beim Zugang zur betrieblichen Berufsausbildung und zum Schulberufssystem deutlich unterrepräsentiert sind, wobei hier mit dem MH eine geringere Schulbildung verknüpft ist.

 

Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass ein mittlerer Schulabschluss oder sogar - mit einem Anteil von inzwischen beinahe einem Viertel - die Hochschulreife zur mehr oder weniger obligatorischen Zugangsvoraussetzung für eine betriebliche oder (vollzeit-)schulische Berufsausbildung wird. Auch wenn dieses Muster zwischen den verschiedenen Berufsfeldern stark variiert, zeigt sich eine deutliche Segmentierung zwischen höher- und niedrigqualifizierten Bereichen in Ausbildung und Beruf (z.B. zwischen höherqualifizierten technischen und kaufmännischen Berufen und geringerqualifizierten Dienstleistungsberufen) nach ihrem jeweiligen Vorbildungsniveau.

 

Die Verteilung auf die Ausbildungssektoren spiegelt daher die Benachteiligung von Jugendlichen mit maximal Hauptschulabschluss nicht vollständig wider. Zu den Barrieren, die sich bereits im Zugang zu einem vollqualifizierenden Sektor einstellen, kommt noch ein stark eingeschränktes Spektrum an Berufen hinzu.

 

Die fortschreitende Segmentation der Berufe nach schulischem Vorbildungsniveau führt dazu, dass diese Gruppe von faktisch der Hälfte der dualen und einem noch höheren Anteil der Berufe aus dem Schulberufssystem ausgeschlossen wird. Es kommt hinzu, dass die ihr noch zugänglichen Berufe zugleich die höchsten Quoten an Vertragsauflösungen aufweisen (Baethge 2017). Im Übrigen reproduziert sich über den Schulabschluss auch die soziale Herkunft bzw. die Bildungsherkunft der Jugendlichen. Dies gilt nicht nur für die Differenzierung zwischen Hochschul- und Ausbildungsabschluss, sondern auch zwischen den verschiedenen Berufsbereichen innerhalb dieser Sektoren.

 

Die sozialen Unterschiede, die bereits im Schulabschluss, Zugang zur beruflichen Qualifizierung und Berufsabschluss bestehen, setzen sich kumulativ in der Weiterbildungsbeteiligung fort. Es ist nicht zuletzt diese Verknüpfung zwischen geringeren Ausbildungschancen und niedrigerer Weiterbildungsteilhabe, die zu einer anhaltenden Einschränkung der Berufs- und Beschäftigungsperspektiven führt. Die Teilnahme an betrieblicher, individuell-beruflicher oder allgemeiner Weiterbildung korreliert hoch mit der jeweils erworbenen schulischen und beruflichen Qualifikation, ein Phänomen, das sich in den jahrzehntelangen Untersuchungen des Berichtssystems Weiterbildung bzw. des Adult Education Surveys (AES) nahezu unverändert wiederholt (zuletzt Bilger u.a. 2018).

 

Es überrascht nicht, dass die Weiterbildungsteilnahme nicht nur mit dem Ausbildungsabschluss, sondern auch mit dem Erwerbsstatus, dem beruflichen Status und der Stellung im Betrieb variiert - und fast erwartungsgemäß auch mit dem Migrationsstatus. Insofern hat Weiterbildung entgegen den früher gehegten gesellschaftspolitischen Erwartungen nur einen sehr geringen kompensatorischen, korrigierenden Effekt auf Benachteiligungen in Schul- und Berufsbildung und verstärkt eher soziale Unterschiede als sie auszugleichen. Die sozialen Disparitäten und Distinktionsmuster scheinen sich vom Schulbesuch bis zur Weiterbildung und - darüber vermittelt - zu den Arbeitsmarkt- und Beschäftigungschancen kontinuierlich fortzupflanzen.

 

Erschienen in DENK-doch-MAL 04-2018

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Timo Gayer Ι 18.10.2018
„Mangelnden Ausbildungsreife“ ist ein Stigma und kein objektiver Befund
Im neuen WZBrief Bildung werden Betriebe und Berufsberatungen aufgefordert, jenseits von Noten und Abschlüssen auch auf individuelle kognitive und soziale Kompetenzen zu blicken. Die Autorinnen kritisieren das Schlagwort von der „mangelnden Ausbildungsreife“, mit dem die Übergangsprobleme vieler Jugendlichen häufig erklärt werden. Ihre Analyse von Daten aus dem Nationalen Bildungspanel zeigt, dass das Problem oft nicht bei den Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerber liegt. Vielmehr werden Jugendliche mit höchstens einem Hauptschulabschluss pauschal als „leistungsschwach“ eingeordnet. Nötig wäre ein genauerer Blick auf die Entwicklungspotenziale. Mehr auf: https://bibliothek.wzb.eu/wzbrief-bildung/WZBriefBildung362018_holtmann_menze_solga.pdf

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