Die gespaltene Gesellschaft
Zur sozialen Funktion von Bildung
Von: Prof. Dr. Andrä Wolter (Professor für erziehungswissenschaftliche Forschung)
Erschienen in DENK-doch-MAL 04-2018
Die empirischen Zusammenhänge zwischen Herkunft und Bildungschancen haben eine historisch weit zurückreichende Debatte über Chancengleichheit (bzw. Chancengerechtigkeit) in der Bildungsteilhabe hervorgerufen. Beide Begriffe sind mehrdeutig und können unterschiedlich definiert werden, meist ist er von allgemeinen gesellschaftspolitischen Vorstellungen geprägt.
- Konservative Konzepte von Chancengleichheit betonen die Start- und lehnen Ergebnischancengleichheit und staatliche Eingriffe ab und berufen sich auf individuelle Leistungsunterschiede.
- Liberale Konzepte betonen die individuelle Förderung aller "Begabten" und akzeptieren die korrigierende Funktion pädagogischer Institutionen, soweit sie das Prinzip individueller Begabtenförderung nicht tangieren.
- Ein sozialstaatliches Verständnis sieht es dagegen explizit als Aufgabe des Staates bzw. öffentlicher Institutionen an, durch Maßnahmen und Programme Chancengleichheit aktiv herzustellen.
Während Chancengleichheit eher auf die Repräsentation von sozialen Gruppen zielt - Chancengleichheit in der Schule ist dann gegeben, wenn der Anteil einzelner Gruppen in etwa ihrem Bevölkerungsanteil entspricht - so führt der Begriff der Chancengerechtigkeit zusätzlich noch eine individuelle Dimension ein. Chancengerechtigkeit besteht dann, wenn Schüler/innen mit in etwa vergleichbaren Leistungen oder Fähigkeiten dieselben Chancen im Bildungssystem haben, unabhängig von ihrer Herkunft. Nach den hier auf der Basis der Nationalen Bildungsberichterstattung referierten Befunden ist in Deutschland weder Chancengleichheit noch Chancengerechtigkeit gegeben - ein Ergebnis, das seit Jahrzehnten bekannt ist und durch neue Daten immer wieder bestätigt wird, weil sich an den grundlegenden sozialen Disparitäten kaum etwas geändert hat.
Und diese werden durch populäre soziale Deutungsmuster oft legitimiert - so etwa durch die oft zu hörende Behauptung, im Gymnasium fänden sich zu viele Schüler/innen, die dort eigentlich nicht hingehören, was selbstverständlich nur "Bildungsaufsteiger" betrifft, die den härteren Wettbewerb um an Abschlüsse, Titel und Berechtigungen geknüpfte Arbeitsmarkt- und Berufschancen stören. Auch die häufig geäußerte Behauptung, in Deutschland gäbe es zu viele Studierende, erweist sich, wie der Bildungsbericht 2018 zeigt, angesichts der Entwicklung und Verteilung der Bildungserträge eher als ideologisch. Das arbeitsmarktpolitische Hauptproblem in Deutschland besteht weniger in der Zahl der Studienanfänger/innen als in dem viel zu hohen Anteil der Jugendlichen, die in den Übergangssektor einmünden und dauerhaft ohne Berufsabschluss, ohne Beschäftigungs- und Lebensperspektiven bleiben.
In einem stark hierarchisch segmentierten Bildungssystem wie in Deutschland ist die Realisierung größerer Chancengerechtigkeit oder -gleichheit ohne Veränderungen der institutionellen Struktur kaum möglich. Vertikal strukturierte Bildungssysteme (re-)produzieren soziale Ungleichheit in einem stärkeren Maße an horizontal organisierte. Institutionelle Veränderungen zugunsten größerer sozialer Durchlässigkeit stoßen jedoch regelmäßig auf massive bildungspolitische Widerstände, da die vorhandenen Strukturen durch starke gesellschaftliche Interessen an der Erhaltung (oder sogar Verstärkung) selektiver Mechanismen gestützt werden, nicht zuletzt seitens der neuen bildungsbürgerlichen Mittelschichten, die selbst von den früheren Wellen der Bildungsexpansion profitiert haben (Baethge 2017). Der Kampf um die Verteilung der Bildungschancen spiegelt klassenspezifische Reproduktionsstrategien wider und ist insofern auch ein Medium der Auseinandersetzung um die Verteilung sozialer Positionen in hierarchisch strukturierten Gesellschaften.
Deutschland zählt zu den Staaten, die sich im internationalen Vergleich durch eine besonders enge Kopplung von Bildungsabschlüssen, Zertifikaten und Berechtigungen auf der einen Seite, beruflichen Zugängen, Beschäftigungs- und Lebenschancen auf der anderen Seite auszeichnen. Insoweit der Hochschulzugang den Zugang zu den herausgehobenen beruflichen und sozialen Positionen in einer Gesellschaft eröffnet, gewinnt gerade hier die Frage nach den sozialen Allokations- und Distributionsmechanismen eine besondere Prominenz. Von daher wird die soziale Schieflage beim Hochschulzugang von vielen normativ unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit kritisiert - nicht zuletzt eben auch aufgrund der Tatsache, dass von einer begabungsgerechten Selektion im Schulsystem nicht die Rede sein kann, weil ein beträchtlicher Anteil der Schüler/innen durchaus über kognitive Kompetenzen verfügt, die ihnen einen anderen Bildungsweg ermöglichen würden.
Das deutsche Bildungssystem verschenkt also Talente - ökonomisch gesprochen: Ressourcen -, auf die unsere Gesellschaft im Zeichen der wissensgesellschaftlichen Modernisierung von Arbeit, Beschäftigung und Wertschöpfung dringend angewiesen ist.
Der strategische Ansatzpunkt für eine Reduktion der sozialen Disparitäten liegt an den zentralen Übergangsstellen und den Verläufen im Schulsystem. So wäre ein höheres Maß an Chancengerechtigkeit z.B. beim Hochschulzugang primär über ein höheres Maß an Chancengerechtigkeit im Schulsystem zu realisieren. Im Schulsystem, aber auch beim Hochschulzugang ginge es vor allem darum, primären und sekundären Herkunftseffekte entgegenzuwirken. Dafür gilt es die individuelle Förderungsfunktion des Bildungssystems gegenüber dessen Verteilungsfunktion zu stärken. Institutionelle Durchlässigkeit in soziale Durchlässigkeit zu überführen bleibt eine zentrale bildungspolitische Aufgabe.