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Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Ruth Enggruber

Inklusive Berufsausbildung - alter Wein in neuen Schläuchen?

24.10.2014 Ι Die Düsseldorfer Erziehungswissenschaftlerin Prof. Ruth Enggruber hat mit einem Forscherteam aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) die Forschungsergebnisse aus dem BIBB-Expertenmonitor 2013 zur Inklusiven Berufsausbildung veröffentlicht und diese Befragungsergebnisse nochmals mit eigenen zugespitzten Informationen unterlegt. Dabei hat sie einen institutionellen Widerspruch im deutschen dualen Berufsbildungssystem aufgespürt. Enggruber benennt im Interview mit unserem Bonner WAP-Korrespondent Ulrich Degen vier interessante Reformvorschläge: Die Ausbildungsplatzgarantie, die Gewährleistung individueller Ausbildungsarrangements, die Zertifizierung und Anrechnung bereits erreichter Qualifikationen und die Partizipation der Jugendlichen als "Experten ihrer selbst".

WAP-Korrespondent Degen: Das duale System der Berufsausbildung hält sich seit seiner Etablierung zugute, dass es allen Jugendlichen, ob mit oder ohne Hauptschulabschluss, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob sozial benachteiligt oder nicht, ob behindert oder nicht behindert, ob mit Lernproblemen oder ohne einen Zugang zu einer beruflich verwertbaren Qualifikati­on bietet, Chancen auf Selbstverwirklichung und auf eine berufliche Karriere. Und berufsschulische und betriebliche Lernorganisationen und -strukturen haben sich in größerem Umfang auch an diesen unterschiedlichen Anforderungen orientiert. Ist dies nicht schon konkrete inklusive Berufsausbildung?

 

Prof. Ruth Enggruber: Da für eine duale Berufsausbildung keine formalen Zugangsvoraussetzungen gelten und auch in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1980 der programmatische Grundsatz einer "Ausbildung für alle" bestärkt wur­de, könnte von "inklusiver Berufsausbildung" gesprochen werden. Dagegen sprechen jedoch zwei entscheidende Gründe:

 

(1) Zum einen fallen die Ausbildungsbilanzen aufgrund der marktwirtschaftli­chen Steuerung des Zugangs zu einer Berufsausbildung - mit anderen Worten: die Betriebe entscheiden über die Anzahl der von ihnen angebotenen Ausbil­dungsplätze und die Auswahl ihrer Auszubildenden - seit Jahrzehnten zu Un­gunsten der Jugendlichen aus. Es gibt nach Berufen und Regionen segmentier­te Teilausbildungsmärkte und ungleiche Zugangschancen nach Migrationshin­tergrund, Geschlecht, Schulabschluss, Behinderungen sowie sozialer und regio­naler Herkunft. Trotz der lauten Rede vom Fachkräftemangel sind gegenwärtig über eine viertel Million Ausbildungsinteressierter im Übergangsbereich zwi­schen Schule und Beruf, und die meisten von ihnen nur aus dem Grund, dass sie keinen betrieblichen Ausbildungsplatz gefunden haben. Zudem prognosti­zieren die KollegInnen im BIBB, dass auch 2025: immer noch rund 166.000 Ju­gendliche im Übergangsbereich sein werden, und dies trotz der Abnahme der 15- bis 17-Jährigen um 15 %. Diese Problematik ist meines Erachtens nur durch eine Ausbildungsplatzgarantie für alle ausbildungsinteressierten Jugendlichen lösbar.

 

(2) Zum anderen sind gegenwärtig an den beiden Lernorten Betrieb und Be­rufsschule nur erste Ansätze zur Gestaltung individueller Ausbildungsarrange­ments zu finden, die gewährleisten können, dass im inklusiven Sinne alle Ju­gendlichen mit ihren spezifischen Lernvoraussetzungen und -interessen ihre Berufsausbildung erfolgreich abschließen können. Beispielhaft nenne ich hier nur die "assistierte Berufsausbildung" sowie "ausbildungsbegleitende Hilfen (abH)". Allerdings besteht noch großer Entwicklungsbedarf zu der Frage, wie "inklusive Berufsausbildung" im Detail gestaltet werden kann.

 

Seit der Unterzeichnung der UN-Konvention über die 'Rechte von Menschen mit Behinderungen' auch durch Deutschland im Februar 2009 hat das Thema 'Inklusion' auch in der Berufsausbildung seinen Stellenwert, wobei sich das deutsche politische Verständ­nis, wie Sie sagen, vor allen Dingen auf Personen mit Behinderung bezieht, während die UNESCO einen weiteren Begriff davon hat und Behinderung als soziale Kategorie ver­steht. Das impliziert, dass Strukturen des Bildungs- und Ausbildungssystems und nicht mehr die Lernenden als Ursache dafür angesehen werden. Was bedeutet das konkret für die Ausformulierung einer inklusiven Berufsausbildung? Sie haben dazu entsprechende Vorschläge auf der Basis von Literatur erarbeitet.

 

Bereits abschließend zu der ersten Frage, habe ich darauf hingewiesen, dass ich dazu noch großen Entwicklungsbedarf sehe. Dennoch kann ich die folgen­den Reformvorschläge nennen, um zu präzisieren, wie die institutionelle Ord­nung und Organisationsstrukturen der dualen Berufsausbildung weiterentwi­ckelt werden sollten, um sie inklusiv zu gestalten:

 

1. Reformvorschlag: Ausbildungsplatzgarantie

Mittels einer Ausbildungsplatzgarantie wird allen ausbildungsinteressierten Jugendlichen unmittelbar nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule der Beginn einer ihren Wünschen entsprechenden betrieblichen Berufsausbil­dung ermöglicht. Nur wenn kein betrieblicher Ausbildungsplatz zu finden ist, wird ih­nen alternativ eine schulische oder außerbetriebliche Berufsausbildung in dem von ih­nen gewünschten Beruf angeboten. Damit erübrigen sich Prüfungen der Ausbildungs­reife der Jugendlichen ebenso wie die Maßnahmen des Übergangsbereichs, in denen sie auf eine Berufsausbildung vorbereitet werden sollen. Stattdessen sind für diejeni­gen, die ihren Schulabschluss verbessern oder nachholen möchten, gezielte Bildungs­angebote zu schaffen.

 

2. Reformvorschlag: Gewährleistung individueller Ausbildungsarrangements

Um die bunte Vielfalt der jungen Menschen, ihre individuellen Lebenslagen, Bedürfnis­se und Interessen systematisch berücksichtigen zu können, sind die Organisations- und didaktischen Strukturen der betrieblichen, schulischen und außerbetrieblichen Be­rufsausbildung auf den Prüfstand zu stellen und neu zu denken.  Ausbildung muss vom/von der Auszubildenden aus gedacht und seinen/ihren Bedürfnissen entspre­chend individuell gestaltet werden. Erste Anregungen finden sich dazu in bereits er­probten Konzepten wie Ausbildungsverbünden, kooperativen Ausbildungsformen zwi­schen Betrieben und Bildungseinrichtungen, assistierter Berufsausbildung, ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH) sowie Teilzeitausbildungsmodellen für junge Mütter und Väter. Dabei sind auch die rechtlich gegebenen Möglichkeiten der Stufenausbil­dung stärker zu nutzen sowie jene, die Ausbildungszeit individuell verlängern zu kön­nen. In Abstimmung mit den Ausbildungsbetrieben, den Kammern bzw. zuständigen Stellen sowie den Akteuren der Jugendhilfe und den berufsbildenden Schulen wird zu klären sein, welche Ausbildungsstrukturen notwendig sind, um alle Auszubildenden in­dividuell und flexibel so zu unterstützen, dass sie ihre Berufsausbildung erfolgreich ab­schließen können.

 

3. Reformvorschlag: Zertifizierung und Anrechnung bereits erreichter Qualifika­tionen

Jungen Menschen, deren Ausbildungsvertrag trotz individueller Förderung vorzeitig auf eigenen Wunsch oder von Seiten des Betriebes gelöst wird oder die gerne ihre Berufs­ausbildung aus irgendwelchen Gründen unterbrechen möchten, sollen ihre bis dahin erreichten Qualifikationen zertifiziert werden. Mittels dieser Zertifikate werden sie ih­nen bei einem späteren (Wieder)Einstieg in die gleiche oder eine andere Berufsausbil­dung angerechnet, oder sie nutzen sie als Qualifikationsnachweis bei der Suche eines Erwerbsarbeitsplatzes. Für eine solche curriculare Flexibilisierung sind die entspre­chenden rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, so dass die Betriebe und Bildungs­einrichtungen dazu verpflichtet werden, die bereits erreichten beruflichen Handlungs­kompetenzen auf die (weitere) Berufsausbildung anzurechnen.

 

4. Reformvorschlag: Partizipation der Jugendlichen als "Experten ihrer selbst"

"Sprich nicht über mich, sondern mit mir! Dieser Grundsatz gilt in besonderem Maße für eine inklusiv gestaltete Berufsausbildung. Deshalb sind die Auszubildenden in allen relevanten Gremien wie Berufsbildungsausschüssen u. a. zu beteiligen, weil sie über die größte Expertise verfügen.

 

Darüber hinaus sind die folgenden Unterstützungsstrukturen aus meiner Sicht notwendig: Zur Unterstützung der inklusiven Berufsausbildung werden bundesweit in den Kommu­nen zentrale Anlaufstellen für die Jugendlichen und ihre Eltern eingerichtet, wo alle Leistungen der kommunalen Jugendhilfe (SGB VIII) sowie Arbeits- und Sozialverwaltung (SGB II, III, IX) zusammengeführt werden, ohne dass eine neue Behörde entsteht. Alle Angebote werden unter einem Dach vereint, so dass die Jugendlichen und Eltern Bera­tung und Unterstützung ,aus einer Hand' erhalten. Konkret heißt das: wer vor oder in einer Ausbildung Unterstützung braucht, kann sie individuell hier beantragen, ohne sich Einzelfallprüfungen und Bewilligungsprozeduren auszusetzen. Erste Erfahrungen dazu liegen mit den "Arbeitsbündnissen Jugend und Beruf" vor, die unter Federführung der Bundesagentur für Arbeit an 20 Modellstand­orten erprobt wurden. Um allen jungen Menschen in der Kommune bzw. Region ein ih­ren Wünschen und Bedürfnissen entsprechendes Ausbildungsangebot machen zu kön­nen, ist in den neu zu schaffenden Organisationseinheiten wie den "Arbeitsbündnissen Jugend und Beruf" ein kommunales Übergangsmanagement anzusiedeln, das auch die Vernetzung aller relevanten Akteure für Berufsausbildung initiiert und voranbringt. Dort ist zum einen auch die Zuständigkeit für kommunales Bildungsmonitoring zu ver­ankern, um zu gewährleisten, dass alle jungen Menschen in der Kommune bzw. Region erreicht werden und den gewünschten Ausbildungsplatz erhalten. Zum anderen sind dort für alle pädagogischen Fachkräfte Fortbildungen zu organisieren, die auch zur Team­entwicklung beitragen. Zur Gestaltung inklusiver Berufsausbildung ist hoch qualifi­ziertes pädagogisches Personal an allen Lernorten notwendig, das auch Erfahrungen in der Arbeit in multiprofessionellen Teams hat. Um allen Jugendlichen mit ihren individu­ellen Voraussetzungen gerecht werden zu können, arbeiten die betrieblichen oder au­ßerbetrieblichen Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrkräfte in den Berufsschulen gemeinsam mit Sozialpädagoginnen/Sozialpädagogen und Sonderpädagoginnen/Son­derpädagogen. Obwohl es kein Spezifikum inklusiver Berufsausbildung ist, gilt auch im Zusammen­hang der inklusiven Berufsausbildung, dass pädagogische Fachkräfte ein angemesse­nes Einkommen beziehen und strukturell die Möglichkeit erhalten müssen, vertrauens­volle Beziehungen zu den Jugendlichen aufzubauen. Deshalb sollte die gegenwärtige Vergabepraxis der öffentlichen Träger, insbesondere der Arbeitsverwaltung, geändert werden. Sie begünstigt, dass möglichst preiswerte Berufsbildungsmaßnahmen immer nur für wenige Jahre an die Bildungseinrichtungen vergeben werden. In der Praxis führt dies zu Lohndumping und befristeten Arbeitsverträgen mit der Konsequenz, dass die pädagogische Qualität unter hoher Personalfluktuation leidet, weil letztlich nie­mand unter diesen Bedingungen dauerhaft arbeiten möchte.

 

Da es ein weites und enges Verständnis von Inklusion gibt, haben Sie die im BIBB-Expertenmonitor vertretenen Fachleute ja auch nach ihrem Inklusionsverständnis gefragt und danach, ob sie eher zu einem engeren - deutschen - oder weiteren UN-Inklusionsverständnis neigen. Wie sind die Antworten zu dieser Frage ausgefallen?

 

Insgesamt wurde bezogen auf alle Befragten von zwei Dritteln dem weiten In­klusionsverständnis zugesprochen. Die größten Abweichungen fanden sich zwi­schen den Sozialpartnern: Während die Gewerkschaften zu 100 % für ein wei­tes Inklusionsverständnis plädierten, war dies nur bei 25 % der Arbeitgeberor­ganisationen und 48 % der Kammern der Fall. Bemerkenswert ist dabei, dass die Betriebe im Gegensatz dazu mit 80 % das weite Verständnis bevorzugten. Und so waren es auch die VertreterInnen der Arbeitgeber-/Wirtschaftsverbände, die mit 58 % am häufigsten die Gefahr nannten, dass ein weites Verständnis "inklusiver Berufsausbildung" die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen vernachlässigen könnte. Diese Gefahr sahen nur 5 % der GewerkschaftsvertreterInnen. Diese sahen allerdings zu einem deutlichen Anteil (53%) ein anderes Problem: Jugendliche, die wegen fehlender betrieblicher Lehrstellen eine schulische oder außerbetriebliche Berufsausbildung durchlaufen müssten, würden dies als Stigmatisierung erleben. Dieses Problem vermuteten verstärkt auch die VertreterInnen der Betriebe (55%), und auch in den restlichen Expertengruppen nehmen die Befürchtungen in dieser Hinsicht einen bedeutsamen Anteil ein.

 

Dabei haben Sie ja auch in der Vorbereitung zu der Expertenbefragung (Online-Befragung) herausgearbeitet, welche institutionellen Bedingungen die Umsetzung bzw. Realisierung inklusiver Berufsausbildung fördern oder hemmen können und wie die Ein­stellung zur Inklusion im Sinne es weiten Inklusionsverständnisses von vier zentralen Grundüberzeugungen beeinflusst bzw. gesteuert wurde. Welche Grundüberzeugungen waren dies?

 

Im Rahmen einer neo-institutionalistischen Analyse der institutionellen Ver­fasstheit der dualen Berufsausbildung habe ich die folgenden vier kognitiv-kul­turellen Überzeugungen herausgearbeitet, die für die duale Berufsausbildung leitend sind. Neben relevanter Literatur habe ich dazu auch fünf Experteninter­views mit Mitgliedern des Hauptausschusses für Berufsbildung und der Kultus­ministerkonferenz geführt. Im Einzelnen ist zu nennen:

 

(1) das Leitziel dualer Berufsausbildung, bei dem die Fachkräftesicherung der Wirtschaft in der Regel Vorrang gegenüber den Bildungs- und Entwicklungszie­len der Jugendlichen hat,

(2) das Leitbild betrieblicher Berufsausbildung, bei dem der Betrieb als wich­tigste Sozialisationsinstanz und bedeutsamster Lernort zur Entwicklung berufli­cher Handlungskompetenzen gilt,

(3) das Berufsprinzip sowie

(4) die meritokratische Leitidee, nach der die Leistungen und Ausbildungsvor­aussetzungen der Jugendlichen der entscheidende Einflussfaktor dafür sind, dass sie einen betrieblichen Ausbildungsplatz finden.


Bei Ihrer Untersuchung zur Situation und Entwicklung der Inklusion in der Berufsbil­dung bedienten Sie sich des BIBB-Expertenmonitors Berufliche Bildung und eines Online-Fragebogens. Vielleicht können Sie uns kurz etwas zu den dort vertretenen Experten und der Struktur des Fragebogens sagen.

 

Im BIBB-Expertenmonitor sind insgesamt 1260 Personen aus für die duale Be­rufsausbildung bedeutsamen Bildungspolitik-, Praxis-, Verwaltungs- und For­schungsbereichen vertreten. Sie stammen aus Gewerkschaften, Arbeitgeberor­ganisationen und Wirtschaftsverbänden, Betrieben, Schulen, Forschungsinstitu­ten und Hochschulen, Berufsverbänden, überbetrieblichen Bildungsstätten so­wie aus der staatlichen Verwaltung. Von den 1260 Personen haben sich 317 an der Befragung zu "inklusiver Berufsausbildung" beteiligt. Der Fragebogen, den sie online bearbeitet haben, setzte sich aus vier Themenfeldern zusammen: (1) Meinungen zu Aufgaben, Zielen und Änderungsbedarfen der dualen Berufsaus­bildung, (2) Handlungsvorschläge zur Umsetzung eines weiten Verständnisses "inklusiver Berufsausbildung", (3) grundsätzliche Meinungen zu und das eigene Verständnis von "inklusiver Berufsausbildung" und (4) eigene Bezugspunkte der Befragten zu "inklusiver Berufsausbildung".

           

Wenn man die ExpertInnen zu ihrer Meinung nach der Inklusion in der Berufsausbildung be­fragt, dann lassen sich, wie Sie festgestellt haben, vier unterschiedliche Argumentationslinien identifizieren, die als Ausdruck von einander unterscheidbaren Grundpositionen der Ex­perten interpretiert werden können. Welche konnten Sie unterscheiden?


Sie sprechen die Argumente an, die die Befragten zur Begründung ihres weiten bzw. engen Inklusionsverständnisses angegeben haben. Ein weites Inklusions­verständnis wurde zum einen damit begründet, dass eine duale Berufsausbil­dung von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung junger Men­schen und ihre Biografie sei und deshalb alle Ausbildungsinteressierten eine Lehrstelle erhalten sollten. Zum anderen wurde auf den drohenden Fachkräf­temangel Bezug genommen, wenn für ein weites Inklusionsverständnis plädiert wurde. Somit wurden neben von uns als ,ethisch' bezeichneten Begründungsli­nien auch bildungsökonomisch argumentiert. Für ein enges Inklusionsverständ­nis sprechen nach Auskunft der ExpertInnen zum einen die möglichen Neben­wirkungen eines weiten Inklusionsbegriffs, wie die Vernachlässigung spezifi­scher Belange von Menschen mit Behinderungen, die sinkende Ausbildungsbe­reitschaft der Betriebe oder die abnehmende Leistungsbereitschaft der SchülerInnen, wenn alle Ausbildungsinteressierten - unabhängig von ihren Schulab­schlüssen oder Noten einen Ausbildungsplatz erhalten würden. Als zweite Argu­mentationslinie wurde grundlegend die Realisierbarkeit eines weiten Inklusions­verständnisses infrage gestellt und die Überforderung der Lernorte genannt.

 

Bereits einführend haben sie Handlungsvorschläge zur Gestaltung inklusiver Berufsausbildung in einem weiten Verständnis vorgestellt. Diese haben sie auch den ExpertInnen genannt und um deren Bewertung gebeten, wie wün­schenswert jeweils aus deren Sicht die Realisierung ihrer herausgearbeiteten Handlungsvorschläge ist. Wie sind diese Bewertungen ausgefallen?

 

Interessant ist, dass nahezu allen Vorschlägen mehr oder weniger zugestimmt wurde. Dies traf in besonders starkem Maße auf individualisierte Förderung/Be­gleitung der Jugendlichen beim Übergang und während der Ausbildung sowie auf eine Verbesserung der Weiterbildung und Beschäftigungsbedingungen für lehrende, ausbildende und begleitende Fachkräfte zu. Ebenfalls wurde eine Ausbildungsplatzgarantie eher befürwortet, wenn auch die Anerkennung schuli­scher und außerbetrieblicher Träger als gleichberechtigte Ausbildungsplatzan­bieter zurückhaltender bewertet wurde. Nur der Ansatz, das Übergangssystem zukünftig auf die Bildungsgänge zu konzentrieren, die zu höheren Bildungsab­schlüssen führen, wurde überwiegend abgelehnt. Diese negativen Reaktionen haben uns nachdenklich gestimmt: Denn schließlich würden bei einer inklusiv gestalteten Berufsausbildung mit einer entsprechenden Ausbildungsplatzgaran­tie die Angebote im Übergangsbereich überflüssig, die die jungen Menschen nur auf eine Berufsausbildung vorbereiten und nicht zu einem höheren Bil­dungsabschluss führen. Zudem würde die seit Jahren kontrovers diskutierte Prüfung der Ausbildungsreife entfallen, weil im inklusiven Sinne alle Ausbil­dungsinteressierten einen direkten Zugang zu einer Lehrstelle erhalten würden. Dennoch deutet sich in den Antworten der ExpertInnen an, dass sie dem Übergangsbereich noch andere Funktionen zuzuschreiben, beispielsweise die Unter­stützung der Jugendlichen bei ihrer Berufswahl. Da wir dazu jedoch nicht gezielt nachgefragt haben, können wir abschließend nicht sagen, was die ExpertInnen dazu bewogen haben könnte, sich überwiegend für die Aufrechterhaltung des Übergangsbereichs in der gegenwärtigen Form auszusprechen.

 

Sie haben abschließend die ExpertInnen zu ihren Ansichten zur Umsetzbarkeit in­klusiver Berufsausbildung gefragt, wobei sie ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass sich inklusive Berufsausbildung nicht nur auf Personen mit Behinderungen, sondern eben auf alle Personen bezieht, die in unterschiedlicher Weise, wie eingangs angesprochen, benachteiligt bzw. an der Teilnahme an einer dualen Berufsausbildung behindert wer­den. Was kam bitte dabei heraus?

 

Hier zeigte sich ein deutlich abweichendes Bild: Denn während - wie bereits zu­vor erwähnt - die meisten Reformvorschläge weitgehend begrüßt wurden, fie­len die Reaktionen der ExpertInnen auf die Frage nach der Umsetzungswahr­scheinlichkeit "inklusiver Berufsausbildung" überwiegend negativ aus. Sie rech­neten zwar damit, dass der durch den demografischen Wandel erzeugte Hand­lungsdruck die Umsetzung eher befördern dürfte. Doch vermuteten sie, dass die Umsetzungskosten sich eher hemmend auswirken würden. Dies gilt auch für die Haltung der ArbeitgebervertreterInnen und die gegenwärtigen politi­schen Mehrheitsverhältnisse. Beiden wurde wenig Offenheit gegenüber einer inklusiven Gestaltung der Berufsausbildung zugesprochen, ganz im Gegensatz zu den ArbeitnehmervertreterInnen, die als deutlich reformfreudiger einge­schätzt wurden. Bemerkenswert ist allerdings, dass den Gewerkschaften der geringste Einfluss auf die Realisierung "inklusiver Berufsausbildung" zugespro­chen wurde. Hingegen wurde ihre Umsetzungswahrscheinlichkeit am engsten mit den aktuellen politischen Mehrheitsverhältnis­sen und an zweiter Stelle mit der vermuteten Haltung der ArbeitgebervertreterInnen verknüpft. Sogar die Umsetzungskosten und die demografische Entwicklung wurden von den Exper­tInnen als einflussreicher als die Haltung der Gewerkschaften eingestuft.

 

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... zum Weiterlesen:

 

Ruth Enggruber/Julia Gei/Petra Lippegaus-Grünau/Joachim Gerd Ulrich: Inklusive Berufs­ausbildung. Ergebnisse aus dem BIBB-Expertenmonitor 2013, Bundesinsitut für Berufsbil­dung, Bonn [Veröffentlichung im Internet: Fassung vom 16.04.2014]

 

Enggruber, Ruth (2014): Plädoyer für Inklusion auch in der Berufsausbildung. In: Bundes­institut für Berufsbildung (BIBB): Good Practice Center. Förderung von Benachteiligten in der Berufsbildung, Gastbeitrag. Verfügbar unter http://www.good-practice.de/infoangebote_beitrag5711.php

 

Enggruber, Ruth/ Gei, Julia/ Ulrich, Joachim Gerd (2014): Inklusive Berufsausbildung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Realisierungschancen aus Sicht von Berufsbildungsexperten. In: Berufs­bildung in Wissenschaft und Praxis, 43 (4), S. 40-43

 

 

Wer ist Professorin Ruth Enggruber?

Prof. Dr. Ruth Enggruber ist seit 1994 Professorin für Erziehungswissenschaft im Fachbereich So­zial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Düsseldorf. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Arbeitsfelder im Schnittpunkt von Berufs- und Sozialpädagogik wie die Berufsbil­dung junger Menschen mit Behinderungen oder Benachteiligungen und sonstige soziale Dienst­leistungen für den Arbeitsmarkt. Zudem war und ist sie als Gutachterin, Beiratsmitglied oder Bera­terin in verschiedenen bildungspolitischen Zusammenhängen tätig, die für die Berufsbildung Ju­gendlicher mit Benachteiligungen und Behinderungen relevant sind.

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