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Interview mit Dr. Ernst Rösner

Schulpolitik wohin - ein Gespräch zur gewerkschaftlichen Schulpolitik

22.09.2014 Ι Auf einem Workshop der Initiative Schule und Arbeitswelt hat Ernst Rösner zu zentralen Herausforderungen für die gewerkschaftliche Schulpolitik Stellung genommen und mögliche Handlungsfelder für die Gewerkschaften abgeleitet. Ein wesentlicher Hintergrund seiner Überlegungen war die zunehmende Unübersichtlichkeit im deutschen Schulsystem. Während das Gymnasium weitgehend unangetastet und unangefochten an der Spitze der gewünschten Schulform steht, entwickelt sich daneben sehr ausdifferenziert zwischen und teilweise in den Bundesländern eine "zweite Säule" von Schulen des längeren gemeinsamen Lernens. Ernst Rösner nahm dabei auch die Gewerkschaften in die Pflicht. Er sprach sich für ein größeres Engagement der Gewerkschaften aus. Er forderte auch dazu auf, die faktische Zweigliedrigkeit des deutschen Schulsystems anzuerkennen.

 

Zur Person: Dr. Ernst Rösner, Jg. 1948, ist pensionierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. In seiner beruflichen Tätigkeit hat er sich schwerpunktmäßig mit Fragen des Aufbaus und der Veränderung des allgemeinbildenden Schulwesens beschäftigt und dazu eine Vielzahl von Publikationen verfasst. Schon 1989 erschien seine Analyse "Abschied von der Hauptschule", die sich als zutreffend erweisen sollte. 2004 erarbeitete er für das Land Schleswig-Holstein das Konzept der Gemeinschaftsschule, die sich als Schule des längeren gemeinsamen Lernens bundesweit zu der am stärksten expandierenden Angebotsform des weiterführenden Schulwesens entwickelt hat.

 

WAP: Lieber Kollege Rösner, kann man für Deutschland eigentlich noch von einem einheitlichen Schulsystem sprechen? Wie würdest du das Schulsystem beschreiben?

 

Das Schulsystem in den Ländern - vor allem das allgemeinbildende - ist von Einheitlichkeit weit entfernt. Tatsächlich entwickeln sich hier die Länder immer weiter auseinander. Das gilt für Schulstrukturen und Begrifflichkeiten. Inzwischen gilt, dass es nicht einmal zwei Bundesländer mit gleichartigen Schulangeboten gibt. Das ist ein großes Ärgernis für die Eltern: Keine Schulreform wird von diesen für so wichtig gehalten wie eine Angleichung der Schulsysteme. In seinem jetzigen Zustand ist das zersplitterte Schulsystem eine Mobilitätsbremse, bei Licht besehen sogar ein Standortnachteil für die Bundesrepublik insgesamt im internationalen Wettbewerb.

 

WAP: In deinen Überlegungen nimmt die Kritik am Föderalismus einen großen Raum ein. Kannst du den Lesern bitte erläutern, was aus deiner Sicht notwendig wäre?

 

Ich bin der Meinung, dass es höchste Zeit ist, einen neuen deutschen Bildungsrat einzurichten. Der letzte beendete seine Arbeit 1975. In diesem Gremium sollten vor allem einschlägig ausgewiesene Wissenschaftler ein Konzept für ein modernes und länderübergreifend gleichartiges Schulsystem erarbeiten. Das könnte dann die Grundlage für eine Änderung des Grundgesetzes sein.

 

WAP: Wie sollte die aussehen?

 

Formal geht es darum, entweder in Artikel 73 oder in Artikel 74 eine klare Zuständigkeit des Bundes für das Schulwesen der Länder aufzunehmen. Die sogenannte Kulturhoheit der Länder kommt im Grundgesetz ja gar nicht vor, sondern leitet sich allein aus dem Verzicht des Bundes auf Einmischung in die Schulpolitik der Länder ab. Bundeszuständigkeit sollte nach meiner Auffassung umfassen: Aufbau und Begrifflichkeit des Schulwesens sowie seiner Schulabschlüsse, freie Schulwahl nach der Grundschule, Entwicklung eines zweigliedrigen Schulangebotes in der Sekundarstufe I, einheitliche Lehrerausbildung und -besoldung.  Die verbleibende Zuständigkeit der Länder kann sich im Wesentlichen auf Unterrichtsinhalte erstrecken. Das sollte ausreichen.

 

WAP: Das Gymnasium steht in den Ländern unangefochten an der Spitze der Elternwünsche. Daneben ein bunter Flickenteppich von sehr unterschiedlichen Schulformen in der zweiten Säule. Was müsste geschehen, um diese zweite Säule aufzuwerten und sie für alle sozialen Schichten zu einem attraktiven Schulmodell zu machen?

 

Auch wenn es manchen Landesregierungen nicht gefällt: Der Weg zu einem zweigliedrigen Schulsystem mit einer Schule des gemeinsamen Lernens und dem Gymnasium ist vorgezeichnet. Schulen, die in der Sekundarstufe I nicht auch gymnasiale Standards anbieten, sind auf der Verliererstraße. So funktioniert eben Schulwahl unter Marktbedingungen. Wenn diese Analyse zutrifft, bedarf das Gymnasium keiner besonderen Zuwendung, diese Schule ist problemlos marktfähig. Es geht also darum, die Schulen des gemeinsamen Lernens zu pflegen. Das bedeutet vor allem: Die Klassengrößen müssen den besonderen Herausforderungen leistungsgemischter Gruppen gerecht werden und die Schulen müssen glaubwürdig auch gymnasiale Inhalte vermitteln können.

 

WAP: Du hast maßgeblich an der Konzipierung der Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein mitgewirkt. Ist die Gemeinschaftsschule ein mögliches Modell für die anderen Bundesländer?

 

Davon bin ich überzeugt. Inzwischen haben ja neun von 16 Bundesländer Gemeinschaftsschulen als Regelschulform eingeführt, wenn auch unter verschiedenartigen Bezeichnungen. In den Flächenstaaten Schleswig-Holstein und im Saarland gibt es nur noch Gymnasien und Gemeinschaftsschulen. Andere Länder werden folgen. Mir ist es auch egal, ob die Schulen des gemeinsamen Lernens Gemeinschaftsschule oder Gesamtschule heißen - Hauptsache, das Elend der typisch deutschen Frühauslese wird abgeschafft und Schülerinnen und Schüler bekommen die Chance, sich individuell zu bewähren und zu entwickeln. Da sind nach meiner festen Überzeugung gerade bei Arbeitnehmerkindern noch große Schätze zu heben.

 

WAP: Gemeinschaftsschulen und Gesamtschulen sind ja fast ausnahmslos Ganztagsschulen. Ist das wichtig?

 

Na klar. Die deutsche Halbtagsschule ist ja im internationalen Vergleich ein Fossil. Mehr und bessere Ganztagsschulen sind wichtige Einrichtungen zur Förderung und zum Abbau ungleicher Bildungschancen. Das sollten aber nach meinem Verständnis verpflichtende Ganztagsschulen sein, auch wenn dafür noch viele Eltern gewonnen werden müssen. Auch hier sehe ich einen Auftrag an die Adresse der Gewerkschaften.

 

WAP: Die Gewerkschaften haben sich "eine gute Schule für Alle" auf ihre Fahnen geschrieben und setzen sich damit auch für eine Reihe von qualitativen Forderungen ein. Aber sie streben am Ende des Tages anstelle des gegliederten Schulsystems eine Schule für alle an. Hat diese Forderung aus deiner Sicht eine Chance? Was würdest du den Gewerkschaften raten?

 

Ich möchte empfehlen, das alte Feindbild Gymnasium aufzugeben. Bei einer Übergangsquote von fast 50 Prozent ist das Gymnasium längst keine Eliteschule mehr, sondern eine Massenschule. Im Übrigen sind moderne Gymnasien mit der alten Feuerzangenbowlenanstalt nicht mehr vergleichbar, denn sie verstehen sich als mitverantwortlich für den Erfolg ihrer Schülerinnen und Schüler. In vielen Gymnasien ist Berufsvorbereitung selbstverständlich und Schulversagen wird immer seltener. Vor diesem Hintergrund wäre es richtig, "Gute Schulen für Alle" als gewerkschaftliches Leitziel zu formulieren. Ob in ferner Zukunft die Ersetzung eines zweigliedrigen Schulsystems durch eine einzige weiterführende Schulform auf der Tagesordnung steht, interessiert mich wenig. Was mich viel mehr als Utopien umtreibt, sind schulische Rahmenbedingungen, die messbare Vorteile vor allem für solche Kinder haben, die im heutigen System benachteiligt sind.

 

WAP: Du kritisierst auch, dass innerhalb der Bildungspolitik der Gewerkschaften die Schulpolitik zu kurz komme. Was könnten die Gewerkschaften tun, um diese Situation zu verändern? Was könntest du raten, damit die Präsenz der Gewerkschaften in schulpolitischen Fragen besser werden könnte?

 

Zunächst müssten sich die Gewerkschaften klar und einmütig positionieren. Danach ist viel Überzeugungsarbeit bei ihren Mitgliedern zu leisten. Die müssen zum Beispiel in größerer Zahl erkennen, dass Tarifpolitik auf bessere Lebensbedingungen heute zielt, Bildungspolitik auf bessere Lebensbedingungen der nachwachsenden Generation. Beides ist wichtig. Ich wäre froh, wenn sich die Gewerkschaften allgemein sichtbar in dieser Frage verstärkt engagieren, also in Wort und Schrift Position beziehen, und zwar so, dass es die Mitglieder auch nachvollziehen können. Also kein akademisches Geschwurbel, sondern Klartext. Ich meine auch, dass die Gewerkschaften Bündnispartner in anderen Organisationen suchen sollten. Schließlich können die Mitglieder des DGB keinen Alleinvertretungsanspruch für eine bessere Bildungspolitik in Anspruch nehmen.

 

WAP: Letzte Frage: Wie ist Deine Meinung zum expandierenden Privatschulwesen?

 

Da vertrete ich eine klare Linie: Privatschulen sind schulrechtlich so prominent verankert, dass eine Auflösungsdebatte reine Zeitverschwendung wäre. Mir würde es ausreichen, wenn einige Privilegien der privaten Ersatzschulen (das sind ja überwiegend Gymnasien) auf den Prüfstand kämen. Konkret bedeutet das: Private Ersatzschulen dürfen keine Organisationsformen bilden, die den öffentlichen Schulen verwehrt sind. Sie dürfen auch nicht eingerichtet werden, wenn dadurch öffentliche Schulen in ihrem Bestand gefährdet werden. Das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme muss also für öffentliche wie auch für private Schulträger gelten. Es ist dabei aber auch zu fragen, ob das öffentliche Schulwesen nicht flexibler auf Problemlagen reagieren können sollte, zum Beispiel mit kleinen Schulen, die derzeit noch eine Entwicklungsnische für Privatschulen sind.

WAP: Vielen Dank!

 

Am Ende gab uns Ernst Rösner noch einen Literaturtipp mit auf den Weg, den wir den Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten wollen.

Dagmar Killus, Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.)
in Kooperation mit TNS Emnid
Eltern zwischen Erwartungen, Kritik und Engagement
Ein Trendbericht zu Schule und Bildungspolitik in Deutschland
Die 3. JAKO-O Bildungsstudie
Waxmann-Verlag (Münster)

In Verbindung mit den beiden Vorgänger-Publikationen (2010 und 2012) findet sich hier reichhaltiges Material, das entweder fortschrittliche Positionen bestärkt oder Anhaltspunkte für gewerkschaftliche Positionsfindungen bzw. gewerkschaftliche Öffentlichkeitsarbeit liefert.

 

In der Initiative Schule und Arbeitswelt wird gerade die Broschüre "Eine gute Schule für Alle" neu aufgelegt.  Die Debatte über die schulpolitischen Forderungen wird fortgesetzt.

 

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