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Zurstrassen

Interview mit Prof. Bettina Zurstrassen

Für eine bessere ökonomische Bildung

02.11.2015 Ι Die Initiative für eine bessere ökonomische Bildung (Iböb; http://www.iboeb.org/) umfasst eine Gruppe von SozialwissenschaftlerInnen und ÖkonomInnen, die sich für eine bessere, eine sozioökonomische Bildung einsetzt. Wir haben Bettina Zurstrassen, Professorin an der Uni Bielefeld, über das Konzept der sozioökonomischen Bildung befragt. Im Interview sprechen wir auch darüber, wie die Wirtschaftslobby in die Schulen drängt. Bettina Zurstrassen hat an dem umstrittenen Heft "Ökonomie und Gesellschaft" mitgewirkt, das auf Drängen der Arbeitgeberverbände aus dem Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)genommen wurde, aber nach massivem Druck wohl in den nächsten Tagen wieder zur Verfügung gestellt wird. WAP hat darüber berichtet. Bettina Zurstrassen, Mitautorin dieses Bandes, sagte dazu im WAP-Interview: "Offenbar wird das Konzept der sozioökonomischen Bildung von der BDA als Bedrohung gesehen. Denn anders ist es nicht erklärbar, dass die BDA so massiv gegen unseren Band "Ökonomie und Gesellschaft" vorgeht. Eine Publikation mit einer Auflage von bestenfalls 3000 Exemplaren hätten sie doch bequem aussitzen können." Das Interview wurde von unserem Kollegen Dirk Erb aus der METALL-Redaktion geführt.

Was machen Unternehmen und vor allem Lobbyverbände derzeit?

Zurstrassen: Wir beobachten derzeit, dass Unternehmerverbände, große Unternehmen und konservative Stiftungen Schulbücher durch Gütesiegel und Preise hochjubeln an denen sie aktiv mitgearbeitet haben oder die von Wirtschaftsdidaktikern stammen, die eng mit den Unternehmerverbänden verbunden sind. Die Schulbuchreihe "Starke Seiten" des Klett-Verlags wurde zum Beispiel 2013/2014 zum "Schulbuch des Jahres ökonomische Bildung" prämiert. Vergeben wird der Preis von der Bundesarbeitsgemeinschaft Schulewirtschaft, die von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln getragen wird. Im Impressum der Publikation "Starke Seiten" werden im Beraterteam die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und der Zentralverband des Deutschen Handwerks aufgeführt. Die Expertise der Arbeitnehmerseite wurde nicht eingeholt. Entsprechend einseitig wird in "Starke Seiten" vor allem die  Position und Interessen der Arbeitgeber aufgezeigt.

 

Wozu Gütesiegel für Schulbücher? Was sind die Kriterien? Und wer kontrolliert die Prämierung?

Zurstrassen: Die Strategie ist gut überlegt, denn Gütesiegel wirken sehr verkaufsfördernd. So werden weltanschaulich sowie wirtschafts- und gesellschaftspolitisch genehme Publikationen von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und dem wirtschaftsnahen Institut der Deutschen Wirtschaft Köln auf dem umkämpften Schulbuchmarkt durchgesetzt. Die Kriterien für die Vergabe des Gütesiegels sind dabei vollkommen intransparent. Der Wettbewerb "Schulbuch des Jahres Ökonomische Bildung" wird im Übrigen von Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert. Zu prüfen wäre, ob eine verdeckte Finanzierung der Lobbyarbeit der Unternehmerverbände durch Steuergelder stattfindet. Die arbeitgebernahe Initiative Schulewirtschaft hat auch gute Kontakte zum Bundesministerium des Innern, das das Projekt "Netzwerk Schulewirtschaft Ostdeutschland" fördert.

Die Nähe einiger Bundesministerien und deren Abteilungen für Bildung zu unternehmensnahen Lobbyinitiativen sind äußerst eng und problematisch. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie fordert zum Beispiel ein separates Unterrichtsfach "Wirtschaft". Erstens greift das Wirtschaftsministerium, wie auch das Innenministerium in die Kulturhoheit der Länder ein. Bildungspolitik ist Angelegenheit der Länder. Beide Ministerien wenden sich gegen die große Mehrheit der Bildungs- und Wissenschaftsminister/innen, die ein sozialwissenschaftliches Integrationsfach eindeutig bevorzugen. Zweitens ist die Begründung des  Ministeriums für Wirtschaft und Energie  wissenschaftlich einseitig und nicht haltbar (http://www.bmwi.de/DE/Service/suche,did=485148.html?view=renderXmlKapitel).

In der Stellungnahme wird zum Beispiel behauptet, dass in Schulbüchern ökonomische Sachverhalte negativ dargestellt würden. Als einzige Quelle wird eine Schulbuchstudie der arbeitgebernahen Initiative Schulewirtschaft angegeben. Auf die repräsentative Studie des renommierten Georg-Eckert Instituts (GEI) für Schulbuchforschung wird dagegen nicht eingegangen. Diese kommt ganz im Gegenteil zu dem Ergebnis, dass deutsche Schulbücher ein erstaunlich differenziertes Bild der Wirtschaft und unternehmerischer Tätigkeit zeichnen. Allerdings, so das GEI "sehen sie unternehmerisches und bloß marktwirtschaftliches Handeln nicht als höchstes Gut an. Sie fordern die Schülerinnen und Schüler zu Eigeninitiative und Engagement in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auf." Eine ähnliche Forderung vertritt das Bundeswirtschaftsministerium auf seiner Homepage: "Zentrales Anliegen der Politik des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie ist es, die Soziale Marktwirtschaft neu mit Leben zu füllen, nachhaltigen Fortschritt zu sichern und den sozialen Zusammenhalt in Deutschland zu stärken." Das verlangt geradezu nach sozioökonomischer Bildung, weil eine rein ökonomische Bildung angesichts dieser Ziele viel zu kurz greift. Dennoch werden die Argumente der sozioökonomischen Bildung im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gänzlich ignoriert.

 


Sie engagieren sich in der Initiative für eine bessere ökonomische Bildung. Wie müsste guter Wirtschaftsunterricht in der Schule denn aussehen?

Zurstrassen: Ich vertrete das Konzept der Sozioökonomischen Bildung, die sozialwissenschaftlich ausgerichtet ist. In der Lehre werden bei der Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems Erkenntnisse und Theorien der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaften und der Politikwissenschaft berücksichtigt. Sozioökonomische Bildung ist schülerorientiert, also in erster Linie den Lern- und Entwicklungsbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler verpflichtet. Maßgeblich sind nicht die Interessen der Wirtschaft und der Wirtschaftsverbände, auch nicht die der Gewerkschaften.

Sozioökonomische Bildung ist emanzipatorisch. Sie hat die Aufgabe, die Lernenden zur Mündigkeit zu befähigen. Foucault beschreibt Mündigkeit als eine innere Haltung, die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Konventionen kritisch reflektieren zu können, sie als sozial gestaltbar und damit veränderbar zu deuten.

Sozioökonomische Bildung ist Teil des Lernfelds politische Bildung, weil auch Wirtschaft politisch und gesellschaftlich gestaltbar ist. In einer Demokratie müssen Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, mitzugestalten und Einfluss nehmen zu können auf wirtschaftspolitische Prozesse und Ordnungsfragen. Das setzt voraus, dass sie auch die Fähigkeiten dazu haben und das ist Aufgabe der sozioökonomischen Bildung.

Sozioökonomische Bildung hat ein positives Schülerbild. Sie hat Vertrauen in die Fähigkeiten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ich empfinde es als unerträglich, dass von den Verfechtern für ein Unterrichtsfach Wirtschaft Jugendliche und ihre Kompetenzen so negativ dargestellt werden, um ein eigens Unterrichtsfach Wirtschaft durchzusetzen. Es wird ihnen vorgeworfen, dass sie nicht ausbildungsreif seien und nicht mit Geld umgehen können usw. Die Empirie, also die Faktenlage zeichnet das gegenteilige Bild. Die große Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland geht sogar ausgesprochen verantwortungsbewusst mit Geld um (siehe Schufa). Sie scheuen Kreditaufnahmen für Konsumgüter. Die meisten Jugendlichen absolvieren erfolgreich eine Ausbildung.

 

Aber es gibt doch andere Studien, die sagen, dass viele Jugendliche nicht mit Geld umgehen können.

Zurstrassen: Ja, es gibt auch Jugendliche, die überschuldet sind oder keine Ausbildung absolvieren. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Einseitig die Schuld hierfür bei den Jugendlichen zu suchen ist aber unfair. Eine aktuelle Studie des DGB hat ergeben, dass bei zwei Drittel der Ausschreibungen der IHK-Lehrstellenbörse Hauptschüler ausgeschlossen werden. Ausgehend von dieser Kenntnis und Erfahrungen bewerben sich Haupt- und Förderschüler oft nicht einmal auf eine Ausbildungsstelle, weil sie ihren Misserfolg antizipieren. Auch die Überschuldung von Jugendlichen hat oft gesellschaftliche Ursachen. Viele überschuldete Jugendliche leben familiär in prekären Verhältnissen. Nicht zuletzt fördern auch Unternehmen mit aggressiver Werbung und großzügigen Finanzierungsangeboten die Verschuldung von Jugendlichen. Selbstverständlich müssen Jugendliche auch Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen, aber man muss auch die gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns berücksichtigen. Es zeichnet sozioökonomische Bildung aus, dass sie auch diese gesellschaftlichen Hintergründe didaktisch reflektiert und im Unterricht aufgreift.

 

Sie haben gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern das Buch "Ökonomie und Gesellschaft" erarbeitet, das diese verschiedenen Perspektiven berücksichtigt. Doch die Bundeszentrale für politische Bildung hat den Band auf Druck der Arbeitgeber zumindest - wie es aussieht - vorübergehend aus dem Programm genommen. Warum?

Zurstrassen: Über die Motive der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) kann ich nur Vermutungen aufstellen. Die massive Reaktion der BDA ist damit zu erklären, dass sie erkennen, dass sozioökonomische Bildung das bessere didaktische Konzept ist, da es wissenschaftlich und lernpsychologisch fundierter ist. Es passt wesentlich besser zum Leben in einer globalisierten, demokratischen und vielfältigen Gesellschaft, weil politische und soziale Implikationen wirtschaftlicher Vorgänge und auch deren kulturelle Prägung berücksichtigt.

Oft wird sozioökonomische Bildung unterstellt, dass sie zu anspruchsvoll sei, weil im Unterricht die Forschungsergebnisse unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen herangezogen werden. In der realen Welt, müssen Menschen aber in komplexen wirtschaftlich geprägten politischen und privaten Situationen entscheiden und handeln können. Hierzu muss Schule junge Menschen befähigen. Das geht aber nicht, indem man ökonomische Bildung an Schulen, wie in den Unterrichtsmaterialien des ZDH-Gutachtens der Unternehmerverbände, vornehmlich  auf das Lösen von Rechenaufgaben reduziert oder die die ethischen und  politischen Aspekte von Wirtschaft weitgehend ausgrenzt (http://www.bpb.de/apuz/33429/bessere-oekonomische-bildung-problemorientiert-pluralistisch-multidisziplinaer?p=all).

Offenbar wird das Konzept der sozioökonomischen Bildung von der BDA als Bedrohung gesehen. Denn anders ist es nicht erklärbar, dass die BDA so massiv gegen unseren Band "Ökonomie und Gesellschaft" vorgeht. Eine Publikation mit einer Auflage von bestenfalls 3000 Exemplaren hätten sie doch bequem aussitzen können.

 

Biografische Angaben:

 

Dr. Bettina Zurstrassen, Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Sie war vor ihrer Berufung an die Ruhr-Universität Bochum  über 10 Jahre im Schuldienst an allgemein- und berufsbildenden Schulen sowie in der Erwachsenenbildung tätig und hat berufsbegleitend promoviert. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den Themen "Politische Bildung an Berufskollegs", "Soziale Ungleichheit in der politischen Bildung" sowie der "Sozioökonomischen Bildung".

 


 

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Bernd Kassebaum Ι 12.11.2015
Schulpreis an Vertreter der sozioökonmischen Bildung?
Frau Hüchtermann, Geschäftführerin von IW Junior hat, nachdem sie das Interview gelesen hat, die Autorin darauf hingewiesen, dass 2014 mit Tim Engartner auch ein Autor der sozioökonomischen Bildung zum Kreis der prämierten gehörte. Frau Zurstrassen antwortet hierauf wie folgt: "Herausgeber der Publikation waren Prof. Dr. Retzmann und Prof. Dr. Grammes und der erstgenannten Herausgeber spricht sich natürlich für eine ökonomische Bildung in Form eines Separatfachs aus. Es bleibt also bei meiner Kritik an der Auswahl der Preisträger. Unter den Namen der beiden Herausgeber wird der Schulbuchpreis des Jahres 2014 auch medial gerahmt. Es freut mich aber, dass Sie die Anwesenheit eines Vertreters der sozioökonomischen Bildung von IW Junior als Gütekriterium für die Publikation und für den Preis gewertet wird." Die Antwort sollte wap-LeserInnen nicht vorenthalten werden.

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