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Ausbildungschancen

Interview mit Rainer Bremer

Die »Crux« mit der Ausbildungsreife

27.11.2013 Ι Ausbildungsreife ist ein sehr dehnbarer Begriff. Aus Sicht der IG Metall könnte man ihn in seiner Tradition auch als subjektiv, arbeitsmarktspezifisch, substanzlos oder gar instrumentalisierend bezeichnen. Damit verknüpft war immer eine Legitimation um junge Menschen ablehnen oder in Fördermaßnahmen stecken zu können.

 

 

Seit 2009 hat eine Arbeitsgruppe des Nationalen Pakts für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs, an dem die Gewerkschaften nicht beteiligt sind, eine Definition und Kategorisierung vorgenommen, welche nach eigener Aussage insbesondere "eine Orientierung für Jugendliche, Eltern und Schulen, aber auch für Berufsberatung und Betriebe" geben soll[1].

 

Betrachtet man die Verwendung der Begrifflichkeit "Ausbildungsreife" über einen längeren Zeitraum oder von unterschiedlichen Blickwinkeln muss man feststellen, dass sie eine andere Bedeutung hat für die Industrie wie für das Handwerk, für einen "attraktiven" Beruf wie für einen Beruf mit geringen Ausbildungszahlen, in einem Ballungsraum wie auf dem Land und diese Aufzählung könnte man noch beliebig erweitern. Maßgeblich ist jedoch immer die Angebotssituation in Bezug auf die Nachfrage - also wie viele Bewerber habe ich für einen offenen Ausbildungsplatz?

 

In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass sich das Verständnis von Ausbildungsreife, mit dem voranschreitenden demografischen Wandel und der damit verbundenen Arbeitnehmerverknappung, in einem eigenen Wandel befindet.

 

WAP möchte an dieser Stelle die Chance nutzen und sich dem Begriff "Ausbildungsreife" und dessen Funktion mit Hilfe von Experten aus Wissenschaft, Politik und Praxis anzunähern. Auftakt bildet das Interview mit Dr. Rainer Bremer vom Institut Technik und Bildung der Universität Bremen.

 

 

Lieber Rainer, Du beschäftigst Dich schon seit Jahren mit dem Begriff der Ausbildungsreife. Wie schätzt Du ihn nach wissenschaftlicher Analyse ein?

 

Rainer BremerIch möchte es nicht zu kompliziert machen, aber sich »seit Jahren« mit etwas wissenschaftlich zu beschäftigen, muß nicht unbedingt für reiche Erkenntnisse sprechen. Das kann ja auch daran liegen, daß man noch nichts rechtes herausgefunden hat. Viel entscheidender sind hier die Voraussetzungen, unter man denen man etwas untersucht. Was wir im ITB, also im Institut Technik und Bildung, im allgemeinen doch anders machen als andere, die sich ebenfalls mit »Ausbildungsreife« beschäftigen, liegt an der grundlegenden Fragestellung, wie man berufliche Bildung innerhalb des dualen Systems - und hier maßgeblich die gewerblich-technischen Ausbildungsberufe in Handwerk und Industrie - in ihren wichtigen Faktoren so gestaltet, daß Technik und Bildung tatsächlich auch zusammenkommen, daß mit der Beherrschung von Techniken eben auch eine Bildung in Form von beruflicher Autonomie entstehen kann. Bei aller Routine und Monotonie in der Berufsarbeit transportiert das Bild vom Facharbeiter oder Handwerker auch die Idee der selbständigen Arbeitsweise, eine Identifikation mit den typischen Arbeitsaufgaben in dem Sinne, daß man von sich erwartet, das auf dem Niveau professionalisierter Arbeit zu beherrschen. Das enthält in hohem Maße einen nicht sichtbaren, durch Beobachtung nicht erschließbaren Anteil an einem Bewußtsein von Qualität und Rentabilität. Vor allem aber die Fähigkeit, der technologischen und organisatorischen Weiterentwicklung der Facharbeit zu folgen. F. Rauner würde jetzt auch noch ergänzen »diese Weiterentwicklungen mit zu gestalten«. Die hier angesprochenen Kompetenzen benötigen zu ihrer Entstehung einen hinreichend breit und tief in der Ausbildung angelegten beruflichen Entwicklungsweg, an dessen Ende eine Beschäftigungsfähigkeit steht, die durch Anlernen oder training on the job eben nicht erreicht werden kann. Solchen Dingen geht das ITB seit Mitte der achtziger Jahre nach. Ich habe seit etwa 2000 mich verstärkt um die Frage gekümmert, an welche subjektiven Voraussetzungen eine erfolgreiche Berufsausbildung gebunden ist. Darin liegt ja schon die Frage nach einer »Ausbildungsreife«. Worauf es nun im Vergleich zu anderen Untersuchungsansätzen ankommt, ist der wirklich konsequente Blick auf die sekundarschulisch gelegten Bedingungen, die aus Sicht der Berufsbildung erfüllt sein müssen. Um es ganz knapp zu sagen: Wir betrachten Ausbildungsreife nicht als verlaufslogisches Ergebnis fortgesetzter Allgemeinbildung von der Klasse 5 bis 9 bzw. 10 oder fassen sie als sozialpädagogisches Phänomen psychosexueller Reife, sondern wir blicken von der Berufsbildung und ihren Anforderungen auf die Einstiegsfähigkeit sozusagen, die junge Menschen mitbringen müssen, um eine Ausbildung so zu beginnen, daß sie auch zu einem nicht nur individuell erfolgreichen Abschluß kommt.

 

Das klingt vielleicht nicht besonders originell, aber es ist doch von ziemlicher, gerade bildungspolitischer Bedeutung: Wer immer nur auf Ausbildungsreife als ein mit der Allgemeinbildung an Haupt- oder Realschulen konformes Ergebnis blickt, verkennt notwendigerweise, daß in vielen Berufen ohnehin nur die weniger erfolgreichen Schüler landen. Insofern hat es die Berufsbildung immer schon mit Mängeln der Allgemeinbildung zu tun gehabt, die sie aber in der Regel beseitigen konnte. Um es wieder kurz zu sagen: Ausbildungsreife ist weniger etwas, das mit dem Ende des Sekundarschulenbesuchs einfach vorliegt, sondern etwas, das häufig erst in der ersten Phase der Berufsausbildung entsteht. Wir hätten es also mit dem Phänomen einer nachgeholten Reife zu tun. Oder auch damit, daß die Berufsausbildung in erheblichen Teilen immer schon der Reparaturbetrieb der Allgemeinbildung war. Dazu liegen aus der Schweiz übrigens sehr interessante Ergebnisse einer empirischen Studie vor, die über 7 Jahre sog. Schulversager aus Risikogruppen bis zum Verschwinden ihrer statistischen Nachweisbarkeit verfolgt hat. Hätten wir dergleichen in Deutschland, etwa im Anschluß an diejenigen  PISA-Studien, die regelmäßig solche »Risikogruppen« ausweisen, wären wir in der Frage, was Ausbildungsreife wirklich bewirkt, wesentlich weiter.

 

Es gab demnach immer das Phänomen, daß die Berufsbildung die Aufgabe lösen konnte, aus schlechten Schülern gute Auszubildende zu machen. Aber: Die Fähigkeit einer betrieblichen und berufsschulischen Ausbildungsorganisation, mit Defiziten der Allgemeinbildung ihrer Ausbildungsanfänger fertig zu werden, kann natürlich auch nicht voraussetzungslos eingesetzt werden. Aber es ist eben etwas anderes, ob man den Milieuwechsel des Lernens an der Schwelle der Allgemeinbildung zu einer Ausbildung dadurch ignoriert, daß man das optimale Ergebnis allein von der allgemeinbildenden Schule abhängig denkt, oder ob man wirklich einsieht, daß ein Teil eines leistungsfähigen Berufsbildungssystems selbst darin besteht, den mit Defiziten behafteten Schulabsolventen zu helfen, diesen Milieuwechsel aussichtsreich zu meistern.

 

 

Siehst Du hier im Grunde betriebliche, monetäre Interessen, die hinter dem Begriff Ausbildungsreife stehen?

 

Diese Interessen sind strukturell angelegt. Man kann das bildungsökonomisch ausdrücken, indem man sagt, daß allgemein die Rendite einer Ausbildung umso höher ausfällt, je ausgeprägter die Leistungsfähigkeit der eingestellten Schulabsolventen ist - man hat dann wenig Probleme mit der Gewährleistung eines überdurchschnittlichen Ausbildungsergebnisses und später höchstwahrscheinlich tüchtige Mitarbeiter, deren Potential bis hin zu einer anschließenden Karriere trägt. Aber die Wirklichkeit ist viel komplizierter. Zwei Aspekte sind darunter, die in unserem Zusammenhang sehr viel mit »Ausbildungsreife« zu tun haben: 1. Es ist keineswegs so, daß Unternehmen aus Renditegründen stets die möglichst besten auswählen (siehe die Debatte um zweijährige Berufe) - hier erkennt man bereits, daß »Ausbildungsreife« und Schulerfolg zwei grundverschiedene Dinge sind. 2. Solche »monetären Interessen« können nur verwirklicht werden, wenn Betriebe, deren Ausbilder und schließlich die Jugendlichen bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dabei spielt die »Ausbildungsreife« unter einem sehr speziellen Aspekt eine meistens übersehene Rolle, die etwas ideologisch schon im Begriff des Berufs - jemand folgt einer »Berufung« - angelegt ist. Von der Rendite her gedacht, kann kein Ausbildungsplatzbewerber hoch genug qualifiziert sein. Dann aber ist in oder nach der Ausbildung mit großen Problemen in bezug auf die Motivation zu rechnen, weil sich Unterforderung breit macht. Nun hilft es aber auch nicht, eine Grenze zu suchen, die knapp oberhalb der Überforderung von Auszubildenden liegt. Es sollte klar sein, daß hierbei die interessegeleiteten betrieblichen Strategien sich erschöpfen. Es kommt bei den Bewerbern auch darauf an, daß sie neben den nach Ausbildung- und Prüfungsordnungen ihnen abverlangten Fähigkeiten Eigenschaften entwickeln, die jenseits der Fachlichkeit oder Beruflichkeit ihres Arbeitsvermögens die volle Beschäftigungsfähigkeit eines Arbeitnehmers ausmachen. Dies ist ein Aspekt der beruflichen Reife, die nicht beliebig irgendwo aufsetzen kann. Ausbildungsreife in diesem Sinn heißt mit Blick auf berufliche Arbeit, daß man will, aber noch nicht kann. Darum lernt man. Berufsreife heißt dann, daß man nach der Ausbildung arbeiten kann und auch will, weil sie bezahlt wird.

 

     

Aktuell spricht ganz Deutschland von dem anstehenden bzw. bereits spürbaren Fachkräftemangel. Was bedeutet dies für Dich in Hinblick auf das gelebte Auswahlkonzept der "Ausbildungsunreife"?

 

Wie fragwürdig die unter diesem Begriff zusammengefaßte Praxis war, spüren die Unternehmen jetzt selbst. Bis zum Ausbruch des Fachkräftemangels konnte man die Tatsache ignorieren, daß die zum Teil sehr aufwendigen Auswahlprozeduren eine funktionale Schwäche hatten, die vom komfortablen Mißverhältnis zwischen Bewerberzahl und angebotenen Ausbildungsplätzen verdeckt wurde. Der Stärke dieser Verfahren, unter einer hinreichend großen Zahl die besten oder die am meisten geeigneten Bewerber auch korrekt zu identifizieren, steht die jetzt zutage tretende Schwäche gegenüber, daß unter den Aussortierten auch solche sind, deren Potential einfach nicht erkannt wurde. Man konnte also immer einigermaßen zuverlässig sagen, wer in infrage kommt, aber nie, wer unter den als »ungeeignet« disqualifizierten Bewerbern nicht doch eine nachträglich bewirkte Reife hätte zeigen können. Diese Schwäche liegt am Relativismus der assessment-Verfahren. So rächt sich, daß es keine nicht bloß funktional-quantitative Definition von »Ausbildungsreife« gibt.

 

 

Wie würdest Du die Potenziale unserer jungen Kolleginnen und Kollegen an der Schwelle von der allgemeinbildenden Schule zum dualen System versuchen einzuschätzen?

 

Dafür reichen weder Empirie noch pädagogische Weisheiten. Generell wird man sagen müssen, daß die Schulleistungen und damit auch das Schulversagen immer weniger etwas über die Reife und Fähigkeiten verraten, eine Berufsausbildung zu beginnen und erfolgreich abzuschließen. Es gibt Gründe für ein Schulversagen, die sozusagen eins zu eins auch ein Versagen vor den Anforderungen einer Berufsausbildung bedingen werden. Aber das hat nichts mit den Noten in Schulfächern zu tun. Und solchen Gründen stehen in erheblicher Zahl andere gegenüber, die das System der allgemeinbildenden Schulen selbst produziert! Da kann es schon helfen, wenn man einfach nur die jungen Leute aus diesen Schulen nimmt, wie Bremen es mit der Werkschule seit einiger Zeit versucht. Man wird feststellen, daß hinter dem angeblichen Schulversagen eine Schulverweigerung steht, die sich aus der Selektionsfunktion der Schule - vor allem in den Stadtstaaten - ergibt. Chancenlosigkeit kann aus einer self fulfilling prophecy resultieren. Durch ständiges downsizing der Lerngruppen in »Maßnahmen für Benachteiligte« konzentriert man dort eine Klientel, die vor allem die nächste Maßnahme rechtfertigen muß usf. Man nennt das in der Bildungsforschung »Entmischung«, wobei man pädagogisch genau weiß, daß dies problemverschärfend wirkt, weil eben nur eine »Vermischung« nach Talenten und Herkunft helfen würde.

 

 

Die IG Metall-Jugend fordert mit ihrer Kampagne Revolution Bildung auch, dass "Jeder junge Mensch auf Wunsch ein Ausbildungsangebot erhalten soll!" Wie schätzt Du dies in Bezug auf die bisher angesprochenen Fragestellungen ein?

 

Sozialpolitisch kann man dagegen nichts einwenden. Wie sollte man begründen, daß jemandem eine Chance vorenthalten bleibt? Wir hatten schon mal so eine Zeit, in den Achtzigern, da hieß es, jedem Schulabsolventen einen Ausbildungsplatz! Man muß aber sehen, was ein solcher wert ist, wenn sich daran kein Arbeitsplatz anschließt. Dann findet eine Selektion eben nicht an der 1. Schwelle Allgemeinbildung-Berufsbildung, sondern an der 2. Berufsaus­bil­dung-Arbeitsmarkt statt. Das Problem ist das Mißverhältnis zwischen dem Arbeitsplatzangebot und der Nachfrage. In Deutschland vermittelt dazwischen eben das duale System der Ausbildung. Attraktiv daran ist für Schulabsolventen zweierlei, die Qualifizierung für einen Beruf und die dadurch gesicherte Beschäftigung auf einem in den meisten Fällen tariflich z. B. verbürgten Niveau.

 

Und man muß bei der Formulierung ». auf Wunsch ein Ausbildungsplatzangebot erhalten soll« nicht nur an eine im Prinzip mögliche anschließende Beschäftigung achten, sondern auch - was ebenfalls in den Achtzigern zu beobachten war - auf die Qualität dieser zusätzlichen Ausbildungsplätze. Eine bloße, nur zahlenmäßig passende Versorgung dürfte kaum Interesse und Talent der Jugendlichen berücksichtigen. Hier stehen wir vor einem echten Problem der Ökonomie. Man kann die Forderung aus der Kampagne Revolution Bildung ja auch zu Ende denken, was hieße, daß jeder Jugendliche nicht nur ein Ausbildungsplatzangebot erhält, sondern dazu in einer hinreichenden Zahl von Berufen, so daß er sich genau das aussuchen kann, was ihm - aus welchen Gründen auch immer - das attraktivste erscheint. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was dann passieren würde. Um dergleichen durchzusetzen, müßte es politische Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft geben, die von keiner demokratischen Verfassung - z. B. auch nicht von der des französischen Nationalstaats nicht - gedeckt wären. Am Ende müßte man Waren produzieren und Dienstleistungen erbringen, nicht um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Arbeitsplätze zu haben, die nur dazu da wären, die ihnen zwangsweise vorgeschalteten Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Stärke des dualen Systems, wie es in Deutschland, Österreich und der Schweiz praktiziert wird, ist ja gerade sein enger Anschluß an ein durch Berufe strukturiertes Beschäftigungssystem. Würde man diese Koppelung wirkungsmäßig umdrehen, ginge genau dieser Vorteil verloren. Das wäre absurd.

 

Um es zusammenfassend zu sagen: Ausbildungsreife ist dann ein ideologisch unverdächtiger Begriff, wenn er von den Anforderungen der qualifizierten Berufsarbeit her gedacht wird: Was muß jemand als Voraussetzung mitbringen, damit eine Ausbildung erfolgreich beendet werden kann, also bis zum »Auslernen« reicht? Ein holpriger Beginn, eine vielleicht überdurchschnittliche Ahnungslosigkeit u. a. m. sind Hindernisse, die in der Ausbildung selbst überwunden werden können. Ausbildungsreife in einem statistisch meßbaren Sinn kann daher auch in der beginnenden Ausbildung selbst nachgeholt werden. Das Potential dazu haben sicherlich vielmehr junge Menschen als es perfekt ausbildungsreife Schulabsolventen gibt.

 

 

 

[1] Bundesagentur für Arbeit (2009): Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs - Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife; S. 4.

 

 

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