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Widuckel

Interview zu Industrie 4.0 und beruflichen Qualifikationsanforderungen

Veränderungen müssen mit Bildung gestaltet werden

21.03.2017 Ι Die Arbeitsprozesse werden durch die Digitalisierung intensiver und dichter vernetzt. Die Umwälzung der Produktion findet durch die erhöhte Automatisierung, neue Produktionsverfahren sowie die stärkere Vernetzung der einzelnen Produktionsschritte statt. "Veränderung wird aber durch neue Technologien nicht einfach "mitgeliefert", sondern muss konkret gestaltet werden", sagt Prof. W. Widuckel im Interview mit unserem Bonner WAP-Korrespondenten Ulrich Degen. Mit Bezug auf die digitale Vernetzung weist Widuckel darauf hin, "dass `das Netz` kein machtfreier oder interessenloser Raum ist." Er bietet an, ". dass sich als Gegenwehr eine Netzwelt von unten bildet, die in diesem Beherrschungsanspruch zu Recht eine Gefährdung der Demokratie sieht." Von zentraler Bedeutung für Gestaltung und Gegenwehr ist die Bildung.

Die Erbringung von Dienstleistungen und die industriellen Produktionsprozesse werden durch die rasante Weiterentwicklung der Informationstechnologie z.T. fundamental verändert. Die betroffenen Beschäftigten und Prozessplaner sehen sich mit grundlegenden Änderungen ihrer Arbeitswelten konfrontiert. Sie ha­ben das Gefühl, dass sich diese Prozesse verselbständigen und ihrer autonomen Gestaltung entgleiten.Trügt sie ihr Gefühl?

 

Ich würde hier nicht von "Gefühl", sondern von Erfahrungen und Wahrnehmungen sprechen, die einen ernsten Kern haben. Die Ursache hierfür resultiert aus zwei Entwicklungen: Die Arbeitsprozesse werden durch die Digitalisierung intensiver und dichter vernetzt, so dass Abhängigkeiten stärker und vielfältiger werden. Der Grad der Vorbestimmtheit wächst, weil die Abläufe strikt vorgegeben sind und Unterbrechungen sofort zu weitreichenden Störungen führen. Diese verstärkten Abhängigkeiten gelten nicht nur für die innerbetrieblichen Abläufe, sondern auch zwischen unterschiedlichen Betrieben oder sogar Unternehmen. Ein Beispiel hierfür sind Lieferantenketten. Die zweite Entwicklung betrifft eine zunehmende Standardisierung des Arbeitens. Das heißt: Präzise und detaillierte Vorgaben für die Ausführung der Arbeit lenken das Handeln in der Arbeit. Aus diesen Entwicklungen ergeben sich zwei mögliche Konflikte: Zum einen verlaufen diese digitalen Prozesse nicht störungsfrei, sind aber schwer zu durchschauen. Im Störungsfall müssen aber schnell Ursachen gefunden werden, um diesen zu beheben. Bei der Standardisierung kann es erforderlich werden, von den Standards abzuweichen, um die jeweilige Aufgabe zu erfüllen. Standards können schlicht zu einem Hindernis werden. Dann verstoße ich gegen Regeln. Hierdurch stellt sich zusätzlich die Frage, ob ich Standards überhaupt erfüllen soll, die nicht immer sinnvoll sind. Beides führt zu Druck und Unbehagen.

 

Sie selbst haben diesen Veränderungsprozess, kurz 'Industrie 4.0' genannt, als 'evolutionäre Revolution' bezeichnet und als paradoxe Entwicklung bezeichnet. Einer­seits mit einer Umwälzung stofflicher und immaterieller Grundlagen der industriellen Produkti­on, andererseits eingebettet in einen Lernprozess des längerfristigen Wandels. Was mei­nen Sie genau damit und besteht damit die Hoffnung, dass sich dieser Prozess von den Beschäftigten längerfristig gestalten lässt?

 

Die Umwälzung der Produktion findet durch die erhöhte Automatisierung, neue Produktionsverfahren sowie die stärkere Vernetzung der einzelnen Produktionsschritte statt. Denken Sie am den so genannten 3D-Druck, bei dem aus den Konstruktionsdaten ein Bauteil oder sogar Endprodukt in einem Bearbeitungsvorgang entsteht, für das in der Vergangen­heit viele Bearbeitungsschritte erforderlich waren. Im Silicon Valley wird heute an 3D-Druck-Verfahren für künstliche Organe gearbeitet. Diese Potenziale werden sich weiter entwickeln und viele Branchen verändern. Diese Veränderung erfolgt aber nicht mit einem großen Glockenschlag, sondern Schritt für Schritt. Hiermit verbunden sind Lernprozesse. Es muss z.B. gelernt werden, wie die Arbeit der Menschen und ihre Qualifikationen sowie ihre Eingriffsmöglichkeiten aufgeteilt und gestaltet werden. Eine zentrale Frage wird sein, ob das erforderlichen Wissen und die Kompetenzen nur auf sehr wenige konzentriert oder so verteilt werden, dass auch zum Beispiel beim 3D-Druck noch jemand vor Ort für die Bearbeitung verantwortlich ist. Im ersten Fall würde diese Funktion vor Ort weitgehend verschwinden, im zweiten Fall muss die Frage beantwortet werden, welche Qualifikationen und Kompetenzen für die Aufgabe vor Ort in Zukunft erforderlich sein werden. In der Vergangenheit sind häufig Visionen von "menschenleeren Fabriken" beschrieben worden. Diese Visionen sind nicht eingetreten, da Wissen und Kompetenzen für die Bearbeitung vor Ort unverzichtbar geblieben sind. Diese haben sich zwar stark verändert, sind aber nicht verschwunden. Es spricht viel dafür, dass uns jetzt eine ähnliche Entwicklung bevorsteht. Dies muss aber gestaltet und auch ausgehandelt werden. Deshalb sind Betriebsräte und Gewerkschaften so entscheidend.

 

Die Angst der Beschäftigten, die manchmal Industrie 4.0 auch als Bedrohung ansehen, hängt sicher auch damit zusammen, wie Sie es formuliert haben, dass ihre Lebenszusammenhänge zunehmend durch technologisch geformte und schwer durch­schaubare Machtstrukturen des Netzes u.a. in Form von Big Data 'gestaltet' werden, also technologisch determiniert sind. Was kann man ihnen zum 'Trost' vor solchen Entwicklun­gen sagen?

 

Ich weiß nicht, ob "Trost" trifft, worum wir uns kümmern müssen. Die digitale Vernetzung ist ja wahrlich nicht einfach eine Bedrohung, sondern bietet auch viele Chancen. Ich nutze diese Chancen sehr gerne. So kann ich ohne Probleme weltweit in Echtzeit mit Menschen kommunizieren, Ideen und Gedanken austauschen oder auch Informationen gewinnen. Das ist eine Bereicherung, die mich auch vor Feindbildern und Vorurteilen schützt.

 

Aber wir müssen auch festhalten, dass "das Netz" kein machtfreier oder interessenloser Raum ist. Hierbei beobachte ich mit Sorge, dass große Unternehmen anstreben, Märkte umzuwälzen und zu beherrschen. Der Hebel hierzu ist die Herrschaft über die Daten. Das Bestellen eines Taxis wird zum "Klick" und hiermit werden Informationen über Mobilität gesammelt. Das letzte Glied in der Kette wird die Taxifahrt und ist der Taxifahrer. Wir können hier eine starke Konzentration wirtschaftlicher Macht durch große globale Unternehmen beobachten, die sich bisher demokratischer Kontrolle zu einem erheblichen Teil entziehen. Hinzu kommt, dass diese Unternehmen nicht nur Dienstleistungen und Produkte verkaufen wollen, sondern sich zu "Organisatoren unseres Lebens" aufschwingen. Dies reicht vom Bezug von Waren und Dienstleistungen wie Bücher, Lebensmittel oder Versicherungen bis zur Überwachung von Gesundheitsdaten oder der Erfassung des Verhaltens in den eigenen vier Wänden. Die zugespitzte Vorstellung dieser Organisatoren ist die nahe­zu lückenlose Lenkung des Verhaltens von Menschen auf Grund von Daten, die Informationen über deren Verhalten liefern. Das Ziel ist die weitgehende Ausschöpfung der Zahlungskraft. Dieser Anspruch der Beherrschung wird zu gesellschaftlichen Konflikten führen. Als "Trost" kann ich hierzu anbieten, dass sich als Gegenwehr eine Netzwelt von unten bildet, die in diesem Beherrschungsanspruch zu Recht eine Gefährdung der Demokratie sieht. Aus meiner Sicht ist das auch ein Thema für Gewerkschaften.

 

Sie haben 'Industrie 4.0' als Verbindung der klassischen Anlagen- bzw. Automatisierungstechnologie mit der Informations­technologie bezeichnet, woraus dezentrale und selbstregulierende Organisationseinheiten entstehen können, mit einem höheren Grad an Automatisierung und Flexibilisierung. Das stellt die Facharbeiter und die Personalleiter sowie die Organisateure dieser Prozesse vor neue fachliche und strategische Herausforderungen. Sicher können Sie uns deren besonderen Herausforderungen nennen.

 

Diese Herausforderungen hängen mit den Lernprozessen zusammen, die ich beschrieben habe. Die Digitalisierung verändert die Aufgaben und die Arbeitsteilung in den Betrieben und zwischen den Betrieben und Unternehmen grundlegend. Diese Veränderung wird aber durch neue Technologien nicht einfach "mitgeliefert", sondern muss konkret gestaltet werden. Diese Gestaltung betrifft den Inhalt und die Verteilung der Aufgaben, die Qualifizierung der ArbeitnehmerInnen, die Arbeitsorganisation, die Personalführung bis zur Vergütung und Eingruppierung sowie zu den Arbeitszeiten. In jedem Betrieb müssen hierbei die jeweils "passenden" Antworten gefunden werden. Sehr vereinfacht und zugespitzt geht es hierbei um die Frage, wie die Potenziale der Digitalisierung genutzt und einge­setzt werden sollen. Ein möglicher Weg wäre, die Entscheidungs- und Fachkompetenz auf nur wenige zu konzentrieren, ein anderer möglicher Weg wäre, diese Kompetenzen stär­ker dezentral zu verteilen. Es liegt auf der Hand, dass dies jeweils ganz unterschiedliche Konsequenzen für die ArbeitnehmerInnen und die Unternehmen hätte. Hierbei werden auch Aushandlungsprozesse mit Betriebsräten eine wichtige Rolle spielen.

 

Wie sich Industrie 4.0 künftig verbreiten wird und welche Auswirkungen sie auf die Arbeitsmarkt­entwicklung hat, ist Ihres Erachtens momentan schwer prognostizierbar. Sie haben aber in der Diskussion festgestellt, dass sowohl beschäftigungsreduzierende Wirkungen wie potentielle Wachs­tumseffekte angenommen werden können. Was halten Sie für eine plausible und annehmbare Entwicklung durch die weitere Digitalisierung?

 

Eine exakte Rechnung wird gegenwärtig niemand präsentieren können, da hier sehr viele Einflussfaktoren zusammenwirken. Es herrscht allerdings eine breite Übereinstimmung darin, dass weniger qualifizierte Tätigkeiten und ArbeitnehmerInnen eher durch die Digitalisierung gefährdet sind. Deshalb werden Bildung und Qualifizierung noch wichtiger für die Beschäftigungssicherheit. Hinzu kommt, dass auch Aufgaben automatisierbar werden, die in der Vergangenheit als ungefährdet galten (z.B. bestimmte einfachere Funktionen in der Sachbearbeitung). Wir können aber kaum einschätzen, ob nicht neue Bedarfe für Produk­te und Dienstleistungen entstehen, die durch die Digitalisierung erst überhaupt herstellbar werden.

 

Bei den qualitativen Auswirkungen von Industrie 4.0 sind für Sie offenbar einige Än­derungen absehbar. So ist zu erwarten, dass künftig die Arbeitsplatzsicherheit der Be­schäftigten und ihre berufliche Weiterentwicklung noch zentraler von deren Bildung und Kompetenzentwicklung abhängen werden. Hier könnte sich eine Schere auftun zwischen denjenigen, die höhere Kompetenzanforderungen zu erfüllen in der Lage sind und solchen 'Einfacharbeitern', die dies nicht hinbekommen. Wie sehen Sie hier die weitere Entwicklung?

 

Eine Spaltung zwischen unterschiedlichen Gruppen von Erwerbstätigen haben wir bereits heute. Vergleichen Sie den Universitätsprofessor mit der Reinigungskraft, die die Universität sauber hält oder tariflich abgesicherte Facharbeiter mit den Helfern bei Logistikdienst­leistern oder die IT-Spezialisten in Großunternehmen mit Soloselbständigen, die auf Auk­tionen im Netz um Aufträge dieser Unternehmen konkurrieren; dann wissen Sie, was ich meine. Wie sind diese Spaltungen zu verstehen? Einen ausschlaggebenden Punkt haben Sie erwähnt - Qualifikation und Kompetenz. Doch es geht weiter: Gut regulierte Beschäfti­gungsbereiche finden sich häufig bei Unternehmen, die Arbeit auch durch die Vergabe nach außen organisieren. Dafür kann es nachvollziehbare Gründe geben, aber auch die simple Zielsetzung, den Wettbewerbsdruck an diese Auftragnehmer auszulagern. Das be­trifft zum Teil auch hoch qualifizierte und nicht nur gering qualifizierte Aufgaben. Es ist denkbar und in Ansätzen sichtbar, dass diese Entwicklung durch die Möglichkeiten digita­ler Vernetzung verstärkt und zusätzlich internationalisiert wird. Solche Prozesse führen al­lerdings auch zu Gegenreaktionen, indem sich Betroffene organisieren. Hier kann sich auch eine vollkommen neue Frage und Aufgabenstellung für Gewerkschaften stellen.

 

Sie erwähnen einen ganz neuralgischen Punkt in der Entwicklung von Arbeitsplatzsi­cherheit und beim Qualifikationsangebot, das die Beschäftigen einzubringen in der Lage sind. Das ist die wachsende Gefährdung von Tätigkeiten der mittleren Qualifikationsebe­ne. Diese Tätigkeiten werden zunehmend der Automatisierung zugänglich. Könnten Sie uns dazu Beispiele und das Gefährdungspotential darstellen?

 

Solche Aufgaben finden Sie z.B. im Rechnungswesen, in der Kredit- oder Schadenssachbearbeitung oder bei Recherchen zu bestimmten Themen, die gut eingrenzbar sind. Diese Aufgaben zeichnen sich durch eine hohe Wiederholungsrate aus und die zu bearbeiten­den Sachverhalte können nach wenigen gut vorhersehbaren Kriterien entschieden wer­den. Hieraus folgt, dass in diesen Bereichen nicht alle Tätigkeiten, aber ein relevanter Teil schlicht entfallen werden. Für die hiervon Betroffenen können die Konsequenzen sehr un­terschiedlich sein. Ein Teil kann den Schritt in die Höherqualifizierung schaffen, ein anderer Teil wird seinen Arbeitsplatz verlieren. Sie können das heute zum Beispiel im Bankensek­tor beobachten. Hier entfällt auch ein Teil, der Dienstleistungen an Kunden, der digital durch Telebanking abgewickelt wird. Ich sehe hier auch ein relevantes Potenzial im öffent­lichen Dienst. Die digitale Steuererklärung ist hier ein schönes Beispiel, wodurch einfache­re Erklärungen digital abgeprüft werden können.

 

Sie reflektieren eine Reihe von neuen Herausforderungen. Neben einem veränderten Betriebsbegriff, der nicht mehr nur den Begriff der Rechtspersönlichkeit betrieblicher Organisationen zugrunde legen kann, sprechen Sie die Trennung von Betrieb und Arbeitsort, den Arbeitszeitbegriff hin bis zu einem möglicherweise zu verändernden Arbeitnehmerbegriff an. Das dürfte ja nicht ohne weitreichende Auswirkungen auf die Tarifvertrags- und Betriebsparteien blei­ben?

 

Eine immer stärkere Vernetzung bedeutet auch eine Verstärkung der Synchronisation von Arbeitsprozessen. Der Strom der Daten kennt keine Werkstore und Unternehmensgrenzen. Der Arbeitsort wird freier wählbar im Betrieb, unterwegs, zu Hause. Das Verlassen des Betriebes ist nicht mehr eindeutig mit dem Feierabend verbunden. Die Normierungen im Arbeitsrecht und in Tarifverträgen gehen allerdings noch überwiegend davon aus, dass Betrieb, Arbeitsort und Arbeitszeit eindeutig bestimmbar seien. Dies ändert sich gegen­wärtig für eine wachsende Zahl von ArbeitnehmerInnen. Für Gewerkschaften und Be­triebsräte stellen sich deshalb viele Fragen: Wie kann bei einer vernetzten Wertschöpfung eine vernetzte Tarifpolitik und Betriebsratsarbeit aussehen? Wie werden Arbeitszeiten au­ßerhalb des Betriebes definiert und geregelt? Dies stellt traditionelle Abgrenzungen von Zuständigkeiten in Frage, die neu definiert und strukturiert werden müssen. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass es nicht damit getan wäre, veränderte flexibler gewor­dene Gestaltungsmöglichkeiten einfach unterbinden zu wollen. Vielmehr kommt es darauf an, die Bedürfnisse und Sichtweisen der betroffenen ArbeitnehmerInnen einzubeziehen; denn die Lebensverhältnisse in den Familien und Partnerschaften haben sich auch stark verändert. Hier hat sich vieles entwickelt, dass InteressenverterInnen nicht vollständig aus eigener Erfahrung kennen. Deshalb ist nicht nur eine stärkere Vernetzung gefordert, sondern auch eine stärkere Beteiligung des unmittelbar Betroffenen.

 

Um verstärkt entstehenden Konflikten zwischen Unternehmens- und Beschäftigteninteressen in diesen Zusammenhängen möglichst zu entgehen, plädieren Sie für eine ver­stärkte Beteiligung der durch weitere Flexibilisierung im Arbeitshandeln betroffenen Mitar­beiterInnen und sie als 'ExpertInnen in eigener Sache' stärker anzuerkennen. Damit würde Ihres Erachtens die Gestaltung der Arbeit aber nicht mehr ausschließlich Aufgabe des Ma­nagements, sondern dasselbe müsste sich stärker den sehr differenzierten Bedürfnissen der MitarbeiterInnen gegenüber öffnen. Ist das realistisch und ggf. ein positiver 'Effekt' von Industrie 4.0?

 

Ich halte diesen Ansatz der verstärkten Beteiligung für sehr realistisch und folgerichtig. In einer Arbeitswelt, die immer komplexer und spezialisierter wird, wissen auch die Führungskräfte vielfach nicht mehr umfassend, welche konkreten und praktischen Anforderungen bestimmte Aufgaben eigentlich an ihre Mitarbeiter stellen und wie sie diese bewältigen. Das weiß ich aus meiner eigenen Führungserfahrung. Zusätzlich werden die Herausforde­rungen der Lebensführung nicht einfacher. Das reicht vom Pendeln, über die Erziehung der Kinder, die Pflege von Angehörigen bis hin zum Leben von Partnerschaften, in denen beide erwerbstätig sind. Wer hier als Unternehmen und Führungskraft glaubt, stur über Vorgaben und Ziele führen und die Last der Verantwortung zur Zielerreichung einfach auf "seine MitarbeiterInnen" abwälzen zu können, wird an Grenzen stoßen. Ich bin aber nicht so naiv zu glauben, dass die angesprochene Beteiligung in einem Akt der Gewährung durch höhere Einsicht Realität wird. Denn natürlich geht es hier auch um Macht und Herr­schaft. Dies lässt vermuten, dass hierum soziale Konflikte entstehen werden. Diese Kon­flikte könne entweder konstruktiv gelöst werden; dann führt an dieser Öffnung zur Beteili­gung kein Weg vorbei. Die destruktive Variante würde zu Demotivation, negativen gesund­heitlichen Auswirkungen und Rückzugsverhalten führen. Hierbei müssen wir im Blick be­halten, dass bei allem Automatisierungspotenzial, die Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland rückläufig sein wird. Ein Überangebot an Arbeitskräften wird in vielen Be­schäftigungsbereichen nicht mehr vorhanden sein. Dies schafft einen zusätzlichen Druck zur Veränderung. Hierbei wird es allerdings sehr stark darauf ankommen, ob Gewerk­schaften und Betriebsräte aus einer starken Verhandlungsposition agieren können oder nicht. Und ebenso dürfen wir auch die Wettbewerbsbedingungen nicht aus den Augen ver­lieren, die sich gegenwärtig im Zuge der Globalisierung sehr stark verändern. Das heißt: Die Öffnung zu mehr Beteiligung ist kein "Selbstläufer", sie hat aber reale Chancen.

 

Sie stellen weiter zwei Bereiche der Arbeit in der Industrie 4.0 in den Mittelpunkt Ih­rer Überlegungen, die Kontrollproblematik wegen der informationstechnologischen Durchdringung des Arbeitshandelns und die Verantwortungsproblematik angesichts der sehr stark ausgeprägten Dezentralität und Vernetzung und der notwendig ho­hen Bereitschaft zur Eigeninitiative sowie der Übernahme von Verantwortung. Diese Anfor­derungen an die Fachkräfte und deren Persönlichkeitsentwicklung setzt als Schlüssel Bil­dung voraus, berufsrelevante Kompetenzen, einen Grundtenor zur Bereitschaft lebenslan­gen Lernen. Können andernfalls Beschäftigte ganz offenbar schnell vom Arbeitsmarkt ab­gekoppelt werden?

 

Auf die Bedeutung von Bildung, Kompetenzen und Qualifikation habe ich bereits hingewiesen. Das lebenslange Lernen ist allerdings eine vielschichtige Angelegenheit. Hier gilt zum einen, dass hierzu auch die Gelegenheit vorhanden sein muss. Und das hängt wesentlich von den Bedingungen der Arbeit ab. Zum anderen muss hierzu auch die Bereitschaft gegeben sein. Lebenslanges Lernen bedeutet zu akzeptieren, dass einmal Erlerntes morgen einen geringeren oder gar keinen Stellenwert mehr haben kann. Ebenso kommt es auf eine intelligente Organisation des Lernens mit den geeigneten Lernmethoden an, denn Menschen lernen verschieden. Lernen erfordert darüber hinaus ein lohnenswertes Ziel und eine Perspektive, sonst fehlt hierfür die Motivation. Wir sehen: das lebenslange Lernen ist eine starke Anforderung, bietet aber auch Chancen, sich zu entwickeln. Ich spreche deshalb ungern vom "lebenslangen" Lernen, weil dies wie ein Urteil in einem Strafprozess klingt. Unser Leben ist jedoch ein ständiger Lernprozess in allen Lebensbereichen.

 

 

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...zum Weiterlesen:

 

Werner Widuckel, Die vierte industrielle (R)Evolution, in: Politikum -

Analysen - Kontroversen - Bildung, 01/2016, S. 33 - 42, Wochenschau Verlag, ISSN: 2364-473.
 

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Weißbuch Arbeiten 4.0. Arbeit weiter den­ken. Diskussionsentwurf, Berlin, Januar 2017. www.arbeitenviernull.de (kostenlos: gsarbeitenvier­null@bmas.bund.de; Best.--Nr. A 883).

 

Wer ist Werner Widuckel?                     

Prof. Werner Widuckel ist Inhaber der Lehrprofessur für Personalmanagement und Arbeits­organisation in technologieorientierten Unternehmen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlan­gen-Nürnberg (FAU). Er hat zwanzig Jahre als koordinierender Referent für den Gesamt- und Kon­zernbetriebsrat von Volkswagen gearbeitet und war von 2005 bis 2010 Arbeitsdirektor und Perso­nalvorstand der Audi AG. Werner Widuckel ist seit 1977 Mitglied der IG Metall.

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