Qualifikations- und Berufsentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
Engpässe vor allem bei Fachkräften zu erwarten
Seit 2007 beschreiben Sie gemeinsam mit dem BIBB langfristige Qualifikations- und Berufsentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Solche Projektionen sind wegen ihrer Komplexität und Unwägbarkeit eine echte Herausforderung in methodischer, empirischer und wissenschaftstheoretischer Hinsicht. Warum haben Sie sich da herangetraut?
Gerd Zika: Uns war schon lange vorher bewusst, dass es eine starke Nachfrage nach derartigen Ergebnissen gibt, sei es von Seiten der Arbeitsverwaltung, der Politik und auch der interessierten Öffentlichkeit. Aufgrund der fehlenden konsistenten Datenreihen hat man lange Zeit davor zurückgeschreckt, langfristige Berufsfeld- und Qualifikationsprojektionen zu berechnen. Wir haben dann irgendwann zusammen mit dem BIBB beschlossen, dass wir diese Datendefizite in Kauf nehmen und trotzdem versuchen wollen, seriöse Projektionen zu erstellen. Auch muss berücksichtigt werden, dass die Datenlage zunehmend besser wird.
Dass Sie bei Ihren Projektionen auf einen regionalen Detailierungsgrad Wert legen, um regionale Spezifika bei den Entwicklungen von Qualifikationen und Arbeitsmärkten herauszuarbeiten, macht die Sache nicht einfacher, zumal ihre Projektionsmodelle ja auch alternative Szenarien mit einschließen sollen. Wo liegt hier die besondere Herausforderung?
Sobald man Projektionen für die Bundesebene erstellt hat, kommen Nachfragen nach der regionalen Differenzierung. Dem wollten wir uns nicht länger verschließen, zumal die Datenlage für einzelne Regionen auch nicht schlechter ist als für den Bund. Eine besondere Herausforderung stellen neben dem erhöhten Aufwand die Pendlerbewegungen zwischen den einzelnen Regionen dar. Will man z.B. für Berlin seriöse Projektionen erstellen, ist die Behandlung der Pendlerfrage von zentraler Bedeutung.
Von welchem Grundverständnis Sie bei Ihrer Studie ausgingen?
Wir weisen in jeder unserer Veröffentlichungen darauf hin, dass es sich bei unseren Ergebnissen um Projektionen handelt, die von bestimmten Rahmenbedingungen ausgehen. Ändern sich diese Rahmenbedingungen, so würden sich auch unsere Ergebnisse ändern. Wir sprechen also von Wenn-Dann-Projektionen, die nicht die exakte Zukunft voraussagen wollen, sondern nur aufzeigen, dass unter bestimmten Voraussetzungen diese Situation eintreten könnte. Somit eröffnen wir z.B. der Politik Handlungsoptionen, um zu erwartenden Entwicklungen entgegen zu wirken.
Sie haben sich in Ihrer Studie für regionale Projektionen des Arbeitsmarktes aus gutem Grund entschieden, da beispielsweise in bestimmten Berufen in Regionen ungenügend Fachkräfte zur Bedarfsdeckung vorhanden sind, in anderen Regionen jedoch in diesen Berufen ein Überschuss besteht. Welche Regionen haben Sie dafür wie definiert?
Da es sich um einen ersten Schritt der Regionalisierung unserer Ergebnisse handelt und aufgrund der Problematik geringer Fallzahlen, konnten und wollten wir nicht zu kleinteilig vorgehen und haben uns erst mal auf eine Einteilung Deutschlands in sechs Regionen konzentriert. Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen waren als Einheit groß genug, um dafür Ergebnisse zu generieren. Dazu haben wir Ergebnisse für die Regionen Ost (fünf neue Länder und Berlin), Nord (Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg, Niedersachsen) und Mitte-West (Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) generiert. Auf Branchenebene stehen uns aber auch jetzt schon Ergebnisse für jedes Bundesland zur Verfügung.
Können Sie uns kurz die wichtigsten wirtschaftlichen, demografischen und branchenmäßigen sowie berufsfeldorientierten Charakteristika dieser sechs Regionen darlegen?
Da müsste ich nun ziemlich weit ausholen. Wir haben in unserem Kurzbericht bzw. dem Band aus der IAB-Bibliothek die einzelnen Charakteristika der sechs Regionen dargestellt. Ein großer Unterschied besteht beispielsweise in der demographischen Entwicklung, die in Ostdeutschland schon jetzt ganz anders ausschaut als beispielsweise in Bayern. Auch gibt es hinsichtlich der Wirtschaftsstruktur erhebliche Unterschiede. Man denke nur an die Bedeutung des produzierenden Gewerbes in Baden-Württemberg im Gegensatz zum Rückbau der Schwerindustrie in Nordrhein-Westfalen.
Ihre Projektionen über künftige Entwicklungen des Arbeitsmarkts basieren ja im Prinzip auf vergangenen und gegenwärtigen empirischen Daten und Erkenntnisse. Änderungen von Rahmenbedingung in der Gegenwart können die künftigen Entwicklungen beeinflussen. Welche Einflussfaktoren machen Ihnen Projektionen schwer?
Da muss man gar nicht auf die regionale Ebene gehen, da derartige Einflüsse auch die Bundesergebnisse entscheidend verändern können. Man muss nur an die aktuelle Entwicklung der Flüchtlingszahlen denken. Diese wird das zukünftige Arbeitskräfteangebot in einer Weise beeinflussen, die wir bisher in keiner unserer Angebotsprojektionen berücksichtigt haben. Regionalspezifisch würden sich aber auch schon Turbulenzen in einzelnen Industriezweigen bei den Ergebnissen bemerkbar machen. Man kann hier den Schiffsbau in Norddeutschland oder die Autoindustrie in Niedersachsen oder Bayern nennen, welche einen erheblichen Einfluss auf die konjunkturelle Lage der jeweiligen Region haben.
Konnten Sie diese Komplexität in Ihren Projektionen und die dahinter stehenden möglichen Binnenwanderungen und Pendel- bzw. Pendlerbewegungen ausreichend berücksichtigen?
Die Datenlage ist diesbezüglich gar nicht so schlecht. Sowohl der Mikrozensus als auch Daten aus der Beschäftigungsstatistik liefern hier wertvolle Erkenntnisse. Somit haben wir sowohl Binnenwanderung als auch Pendelbewegungen schon in der vorliegenden ersten Welle der Regionalisierung berücksichtigen können. Natürlich sind Verbesserungen immer möglich und sollen in den nächsten Runden auch realisiert werden.
In den Mittelpunkt Ihrer Betrachtung steht die Gegenüberstellung von Angebot und Bedarf nach Berufen. Wie sieht diese grob gesagt in den von Ihnen gebildeten Regionen aus?
Aufgrund des demografischen Wandels in Verbindung mit den regionalen Besonderheiten ergibt sich in 15 von 20 erweiterten Berufshauptfeldern zumindest in einer Region ein rechnerischer Arbeitskräfteengpass. Lediglich in vier der beruflichen Felder wird es bundesweit Überhänge geben: In den Rechts-, Management- und wirtschaftswissenschaftlichen Berufen, in den lehrenden Berufen, in den Berufen im Warenhandel sowie den Büro-, kaufmännischen Dienstleistungsberufen. Bei den akademisch geprägten IT- und naturwissenschaftlichen Berufen wird es ebenfalls keine Engpässe geben, wenngleich der Arbeitskräfteüberhang in den Regionen Nord und Nordrhein-Westfalen eher klein ausfällt.
Zu massiven Rekrutierungsschwierigkeiten wird es nach unseren Projektionen nur bei den technischen Berufen kommen, die überwiegend einen Berufs- bzw. Fortbildungsabschluss voraussetzen. Die ebenfalls ersichtlichen Engpässe bei den Medien-, geistes- und sozialwissenschaftlichen, künstlerischen Berufen in nahezu allen Regionen sind vor dem Hintergrund zu relativieren, dass überall eine ausreichende Anzahl an ausgebildeten Fachkräften bereitsteht, die ihre Arbeitskraft bislang bevorzugt auch in den Büro-, kaufmännischen Dienstleistungsberufen oder in den lehrenden Berufen anbieten.
Ins Auge sticht, dass sich bei den Gesundheitsberufen - bei denen deutschlandweit mit den größten Arbeitskräfteengpass gerechnet wird - in der Region Nord und in Nordrhein-Westfalen ein Arbeitskräfteüberschuss ergibt. Dies liegt hauptsächlich an den nach wie vor überdurchschnittlich hohen Ausbildungszahlen im Gesundheitswesen in diesen Regionen. Außerdem fällt auf, dass bei den Berufen im Warenhandel: Verkaufsberufe im Einzelhandel nur in der Region Ost noch ausreichend Arbeitskräfte vorhanden sein werden, obwohl dort der stärkste Bevölkerungsrückgang vorausberechnet wird und demnach in sehr vielen Berufsfeldern Arbeitskräfteengpässe erwartet werden.
Und welche Entwicklung nimmt aus Ihrer Sicht der Arbeitsmarkt in den sechs Regionen unter den derzeitigen Bedingungen und Trends?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Projektion in nahezu allen Regionen Engpässe vor allem im Bereich Fachkräfte mit einem mittleren Ausbildungsabschluss zeigt. Auf der beruflichen Ebene ergibt sich wie vorher schon beschrieben in 15 von 20 untersuchten Berufshauptfeldern in mindestens einer Region ein rechnerischer Arbeitskräfteengpass. Bei den technischen Berufen sind die Engpässe flächendeckend, häufig betroffen sind auch die Gesundheitsberufe.
Bei Ihrer regionalen Analyse haben Sie ja sicher Faktoren aufgespürt, die in sehr starkem Maße sowohl auf der Angebots- als auch der Nachfrageseite die derzeitige und künftige Entwicklung maßgeblich bestimmen. Vielleicht können Sie uns diese Faktoren darlegen und erläutern.
Eine entscheidende Rolle spielt die demographische Entwicklung, und zwar nicht nur für die Angebots- sondern auch die für Nachfrageseite. Genauso wichtig ist aber die vorhandene Wirtschaftsstruktur, welche für die Ansiedelung weiterer Arbeitsplätze eine herausragende Rolle spielt. Das Bildungssystem ist für einen rohstoffarmen Standort wie Deutschland ebenfalls von zentraler Bedeutung, weil wir auf gut ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen sind.
...zum Weiterlesen:
Gerd Zika und Tobias Maier (Hg.), Qualifikation und Beruf in Deutschlands Regionen bis 2030. Konzepte, Methoden und Ergebnisse der BIBB-IAB-Projektionen, , IAB-Bibliothek 353, W. Bertelsmann Verlag GmbH&Co. KG, Bielefeld 2015; ISBN 978-3-7639-4093-6 (Print), ISBN 978-3-7639-4094-3 (E-Book)
Zika, Gerd; Maier, Tobias; Helmrich, Robert; Hummel, Markus; Kalinowski, Michael; Hänisch, Carsten; Wolter, Marc Ingo; Mönnig, Anke (2015): Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen bis 2030: Engpässe und Überhänge regional ungleich verteilt. (IAB-Kurzbericht, 09/2015), Nürnberg, 12 S.
Wer ist Gerd Zika?
Dr. Gerd Zika hat Betriebswirtschaftslehre der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/Nürnberg studiert (Diplom-Betriebswirt 1991). Danach war er als Assistent am Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/Nürnberg tätig (Promotion 1994). Seit 1995 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Analyse sowohl der kurz- als auch der langfristigen Entwicklungen am Arbeitsmarkt, wobei sein Hauptaugenmerk auf der Arbeitskräftebedarfsseite liegt.