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Dobischat

Von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Überblicksstudie

Nachhilfe: Kinder aus wohlhabenden Familien deutlich überrepräsentiert

08.03.2017 Ι Der Nachhilfemarkt boomt. Rund eine Milliarde Euro geben Eltern jährlich für Nachhilfe aus. Wenige Anbieterketten dominieren den Markt. Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat diesen zunehmend kommerziell strukturierten Bildungsmarkt durchleuchtet. Prof. Rolf Dobischat, der auch im gemeinsamen wissenschaftlichen Beraterkreis von ver.di und IG Metall mitwirkt, war auch an dieser Untersuchung beteiligt. In einem Interview mit wap stellt er wichtige Ergebnisse dieser Studie vor.

Das Interview:

Warum habt ihr den kommerziellen Nachhilfemarkt untersucht? Welche Ziele habt ihr dabei verfolgt?

 

Die Bildungsforschung hat sich in der Vergangenheit nur sehr wenig mit der kommerziellen Nachhilfe beschäftigt, so dass man bei der Nachhilfe durchaus von einer Black-Box in der Bildungslandschaft sprechen kann. Hauptgrund der Studie war also, mehr Licht auf die Nachhilfebühne zu bringen. Dabei haben wir das Ziel verfolgt, Strukturen und Wirkungen der Nachhilfe transparenter zu machen und zugleich danach zu fragen, welche spezifischen Wirkungen durch Nachhilfe verursacht werden. Eine besondere Blickrichtung haben wir dabei auf die Frage gerichtet, ob Nachhilfe bei der Bildungsungleichheit kompensatorische Effekte auslöst, also ob Nachhilfe bestimmte Defizite der Schule ausgleicht.

 

Was könnt ihr über die kommerziellen Anbieter und ihre Interessen sagen?

 

Der kommerzielle Anbietermarkt ist in den letzten Jahrzehnten deutlich expandiert. Schätzungen zufolge existieren neben Einzelpersonen, wie z.B. Lehrern, Studenten oder Schülern, die die im Einzelfall Nachhilfe geben, ca. 5000 kommerzielle Nachhilfeanbieter, wobei es einige große Anbieterketten gibt, die den Markt mit ihrem Filialsystem bundesweit dominieren.

Das primäre Interesse der Anbieter liegt auf der Hand; sie wollen Geld verdienen, und das tun sie auch. Nach seriösen Berechnungen werden pro Jahr ca. 1 Mrd. Euro von den Eltern für Nachhilfe ausgegeben. Auch in den nächsten Jahren wird die Nachhilfe ein umkämpfter Wachstumsmarkt bleiben, der mittlerweile auch in das verstärkte Interesse ausländischer Investoren gerückt ist.

 

Wodurch unterscheiden sich die kommerziellen von öffentlichen Nachhilfeangeboten?

 

Das zentrale Unterscheidungsmerkmal ist, dass öffentliche Nachhilfeangebote im Gegensatz zu kommerziellen Angeboten in der Regel mehr oder minder kostenlos in Anspruch genommen werden können, somit keine finanziellen Zugangsbarrieren existieren. Dies gilt sowohl für Angebote der Schulen - sofern als Regelangebot vorhanden - als auch für Angebote anderer Träger wie z.B. der Kirchen und der Sozial- und Wohlfahrtsverbände. Für kommerzielle Nachhilfe müssen also die Eltern in die Tasche greifen, um die Kosten aufzubringen.

Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung wurde die Option eröffnet, im individuellen Bedarfsfall mit staatlichen Zuschüssen die kommerzielle Nachhilfe finanziell zu fördern, also die Eltern finanziell von den Kosten zu entlasten. Leider sind die Ergebnisse der realen Inanspruchnahme aus unterschiedlichen Gründen bisher sehr ernüchternd geblieben.

 

Warum entscheiden sich Eltern für Nachhilfe? Welche Fächer sind besonders betroffen?

 

Die Gründe sind sehr facettenreich. Zuerst einmal ist Nachhilfe das Ergebnis einer gestiegenen Bildungsaspiration der Eltern. Denn höhere und gute Schulabschlüsse legen in der Regel den Grundstein für eine erfolgreiche Bildungs-, Berufs- und Erwerbsbiographie. Um im Wettbewerb um attraktive Karrierepfade bestehen zu können, entscheiden sich Eltern, wenn sie denn über die entsprechende Ressourcen verfügen, ihren Nachwuchs über Nachhilfe mit dem erforderlichen Startkapital wie z.B. gute Noten für den Übergang in die nächst höher Bildungsgangstufe auszustatten.

Es geht also nicht mehr allein um den Ausgleich von schlechten Noten und die Risikominderung bei einer Versetzungsgefährdung, was man mit klassischer Nachhilfe verbindet, sondern vielmehr um eine generelle notenbasierten Verbesserung der Wettbewerbsposition. Nachhilfe wird heute immer öfter nicht mehr nur punktuell bei schlechten Leistungen in Anspruch genommen, sondern begleitet Bildungslaufbahnen auch langfristig.

Bei den Fächern geht es vor allem um die Hauptfächer Mathematik, Englisch und Deutsch.

 

Kommerzielle Nachhilfe ist teuer. Konntet ihr erkennen, welche sozialen Schichten in besonderer Weise auf Nachhilfe zurückgreifen?

 

Nach Angaben der Bertelsmann-Stiftung belasten Nachhilfeschüler die Eltern mit jährlichen Aufwendungen von über ein Tausend Euro. Je nach Nachhilfeanbieter und Region variieren jedoch die Kosten erheblich. Bei den Kosten spielt auch eine Rolle, in welchem Lernformat Nachhilfe stattfindet, z.B. Präsenzunterricht, Gruppengröße oder E-Learning.

Erkennbar ist, dass kommerzielle Nachhilfe eine sog. "Mittelschichtveranstaltung" ist. Zugespitzt kann man sagen, dass schichtenspezifisch auch bei der Nachhilfe die sozialen Reproduktionsmechanismen dieser Gesellschaft greifen. D.h., es partizipieren diejenigen, deren sozialer Hintergrund nicht nur mit dem Merkmale der "Bildungsnähe" versehen ist und die über die erforderlichen finanziellen Ressourcenspielräume zur Unterstützung ihrer Kinder verfügen.

Die Kinder aus sozialen Schichten, die mit dem Attribut der "Bildungsferne" versehen werden, also Kinder aus sozial benachteiligten Familien, sind unter den Nachhilfeschüler deutlich unterrepräsentiert. Daran hat bislang auch das Bildungs- und Teilhabegesetz wenig geändert.

 

Kann Nachhilfe einen Beitrag zur Verringerung der Chancenungleichheit leisten oder verfestigt Nachhilfe nicht die vorhandene Ungleichheit?

 

Da sind die empirischen Befunde eindeutig. Aus den analysierten Daten lässt sich ablesen, dass kommerzielle Nachhilfe die bestehenden sozialen Ungleichheiten im Zugang zu Bildung nicht auflösen, sondern konservieren, ja sogar verstärken. Während Mittelschichtkinder aus einkommensstärkeren Haushalten zu den Profiteuren von Nachhilfe zählen, sind Kinder aus einkommensschwächeren Schichten deutlich unterrepräsentiert.

Belegen kann man aufgrund der Daten, dass die finanziellen Ressourcen der Mittelschichteltern in Verbindung mit deren starker Aspiration auf höhere Bildungsabschlüsse die treibenden Kräfte sind, die die Ungleichheit in den Bildungschancen zementieren.

Von kompensatorischen Effekten durch Nachhilfe kann insofern überhaupt nicht gesprochen werden, denn die sich geöffnete Schere der Zugangsungleichheit auf Basis der ermittelten Daten zur Inanspruchnahme bleibt bestehen.

 

Ist Nachhilfe nicht Ausdruck eines defizitären Schulsystems? Mit anderen Worten:  Kann man nicht sagen, wenn wir bessere Schulen hätten, würde wäre Nachhilfe überflüssig?

 

Unzufriedenheit von Eltern mit dem Leistungsspektrum von Schule und den Angeboten an individueller Lernförderung ist sicherlich ein Grund, warum der Nachwuchs zur Förderung in die Nachhilfe geschickt wird. Hinlänglich bekannt ist, dass unser Schulsystem bereits frühzeitig in unterschiedliche Bildungswege und Bildungsgänge selektiert, und dies zu nachhaltigen Effekten für die weitere Schul- und Berufslaufbahnen - im positiven wie auch im negativen Sinne - führt.

Diesem strukturellen Problem versuchen Eltern entgegen zu wirken und wählen dabei die Nachhilfe, die sie als unterstützendes "Parallelsystem" für die fehlende Förderung in der Schule einsetzen.

Gerade mit dem Konzept der Ganztagsschule ist intendiert, u.a. auch die Lernförderung wieder in die Schule zurückzuholen, was durchaus unter dem Aspekt einer Chancenverbesserung für nicht privilegierte Kinder mit einem Förderbedarf positiv zu werten wäre.

Leider sieht die Bilanz der Etablierung von Ganztagsschulen mit einem entsprechenden Förderunterricht, der durch qualifiziertes Personal erteilt wird, nicht besonders erfreulich aus.

Aber erst in der Zukunft wird man fundiert und empirisch abgesichert darüber Aussagen treffen können, ob das Konzept der Ganztagsschule quantitativ und qualitativ zur Eindämmung des kommerziellen Nachhilfeunterrichts führt.

 

Was sind eure Vorschläge? Wo soll man ansetzen? Soll man den kommerziellen Nachhilfemarkt regulieren? Was kann die Politik hier tun?

 

Obwohl kommerzielle Nachhilfe ihr Geschäftsmodell im Bildungsbereich betreibt, wird sie nur durch das Wirtschaftsrecht reguliert. Nachhilfe wird durch Wirtschaftsbetriebe am Markt offeriert und fällt daher in die Zuständigkeit des Gewerberechts. Das ist zu wenig.

Da Bildung ein öffentliches Gut ist, das für jeden frei zugänglich sein sollte und für das es eine öffentliche Verantwortung in Form gesetzlicher Regeln gibt, muss darüber nachgedacht werden, inwieweit die kommerzielle Nachhilfe ebenfalls durch eine öffentliche Teilverantwortung einer Regulierung zugeführt werden muss.

Denkbar und bildungspolitisch überlegenswert wäre es, eine öffentliche Instanz zu beauftragen, für die Nachhilfeanbieter ein Akkreditierungsverfahren analog den Verfahren bei der öffentlichen Weiterbildungsförderung nach dem SGB III zu installieren, das qualitative und quantitative Standards setzt und prozessbezogen prüft.

 

Wie steht es um die Qualität der kommerziellen Nachhilfeangebote? Kann man die Qualität verbessern? Wie müsste die Qualitätssicherung aussehen?

 

Über die Qualität der kommerziellen Nachhilfe lässt sich wenig Fundiertes sagen, denn es gibt bislang keine unabhängige und aussagefähige Forschung zum Problemfeld der Qualitätsmessung und -dokumentation.

Ein Teil der Nachhilfeanbieter verfügt zwar über ein zertifiziertes Qualitätsmanagementsystem. Dieses betrachtet und bewertet aber weitgehend nur eher formale Kriterien, weniger jedoch steht die konkrete Unterrichtsqualität im Blickfeld. Hier müsste eine Qualitätssicherung ansetzen, in dem qualitative Aspekte wie z.B. auch die pädagogische und didaktisch-methodische Kompetenz der Nachhilfelehrer Berücksichtigung finden müssten.

 

Habt ihr Tipps für die Eltern? Wie können sie beim dem großen Angebot das Richtige für ihr Kind finden?

 

Die präzise Beantwortung dieser Frage fällt schwer, da es keine entsprechenden Prüfkriterien gibt. Wichtig ist jedoch, dass man sich als Eltern den Anbieter genau anschaut, mit den Lehrern spricht und darum bittet, dass das Kind mindestens eine kostenlose Probestunde erhält. Zudem kann man die Preise mit anderen Anbietern genau vergleichen, nach den Arbeitsbedingungen fragen und den Vertrag hinsichtlich der Laufzeiten und des Kündigungsprozedere prüfen.

 

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch!

 

Angaben zur Studie:

Klaus Birkelbach/Rolf Dobischat/Birte Dobischat:

Ausserschulische Nachhilfe. Ein prosperierender Bildungsmarkt im Spannungsfeld zwischen kommerziellen und öffentlichen Interessen.

Study Nr. 348 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2017

Sie ist als pdf über folgende Adresse zu beziehen: http://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_348.pdf

 

Angaben zur Person:

Prof. Dr. Rolf Dobischat ist gelernter Industriekaufmann und Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität Duisburg Essen. Er ist Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beraterkreises von ver.di und IG Metall. Von 2006 bis 2011 war Rolf Dobischat Präsident des Deutschen Studentenwerks.

Kontakt:

Prof. Dr. Rolf Dobischat - Universität Duisburg-Essen - Fakultät für Bildungswissenschaften: Email: rolf.dobischat@uni-due.de

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