Werbung in der Schule
Wie Unternehmen um Schülerinnen und Schüler buhlen
Chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems
Sinkende Schulbuchetats, gedeckelte Kopierkontingente und die teilweise Preisgabe der Lehrmittelfreiheit - immerhin eine Kernforderung der Revolution von 1848 - haben dazu geführt, dass der Anschaffungsturnus von Schulbüchern in den vergangenen Jahren systematisch ausgeweitet wurde. Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer nehmen daher Unterrichtsmaterialien privater Bildungsanbieter in Anspruch, wobei Praktikanten und Referendare, die während ihrer Ausbildung Orientierung suchen und nur über knappe finanzielle Mittel verfügen, besonders häufig auf gratis ausgegebene Bücher und Broschüren zurückgreifen. So bieten derzeit 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen kostenlose Unterrichtsmaterialien an, um der nachfolgenden Generation ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Sogar Unternehmensmitarbeiter unterrichten teilweise an Schulen. Immerhin können hierzulande knapp 11 Mio. Schülerinnen und Schülern durch Werbemaßnahmen erreicht werden.
Tektonische Verschiebung in Richtung Privatwirtschaft
Die "Öffnung von Schule" gegenüber unternehmerischen Einflüssen hat zu einer tektonischen Verschiebung der Akteurskonstellationen im Bildungssektor geführt: Gewinn- und Gemeinwohlorientierung prallen aufeinander. Denn nicht wenige der mehr als 1.000 Initiativen, die vorgeben, sich um die schulische Bildung verdient zu machen, speisen die Schulen mit selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien, gerade auch um die Vor- und Einstellungen Heranwachsender zu prägen. Die Deutsche Bank, der Schokoladenhersteller Ritter Sport oder die Fast-Food-Kette McDonald's adressieren die einst neutrale Bildungsinstitution Schule aber nicht nur, um eine bestimmte Weltsicht zu präsentieren. Zugleich wollen sie ihre Produkte bewerben, ihr Image aufbessern, Kunden an sich binden und Personal rekrutieren. Sie wissen, dass an Kinder gerichtete Werbung besonders effektiv ist. Bei ihnen muss nur ein Viertel des Budgets veranschlagt werden, um denselben Werbeeffekt zu erzielen wie bei Erwachsenen. Außerdem beeinflussen Kinder oftmals die Kaufentscheidungen von Eltern und Großeltern.
Die privat-öffentlichen "Bildungs- und Lernpartnerschaften" haben im Zeichen der "Öffnung von Schule" ein historisches Ausmaß erreicht. So offenbarte die PISA-Studie 2006, dass mehr als 87 Prozent der 15-Jährigen hierzulande eine Schule besuchen, an der Industrie und Wirtschaft Einfluss auf die Lehrinhalte ausüben. Dies grenzt im OECD-Vergleich an einen "Negativrekord". Direkte Werbung an Schulen ist zwar in den meisten Bundesländern verboten. Unter wachsendem finanziellem Druck haben sich die Kultusminister allerdings immer weiter der Wirtschaft geöffnet, so dass inzwischen Sponsoring in allen Bundesländern erlaubt ist. Unternehmen können Schulen somit in vertraglich geregelter Form finanzielle, sachliche oder personelle Ressourcen zur Verfügung stellen und erhalten dafür eine werbewirksame Gegenleistung. Problematisch dabei: Die Grenzen zwischen Werbung und Schulsponsoring sind fließend. Zudem kann auch direkte Werbung in einigen Bundesländern - so z. B. in Nordrhein-Westfalen - dann eingesetzt werden, wenn es den "Erziehungsauftrag der Schule nicht beeinträchtigt" oder wenn die Werbung "hinter den pädagogischen Nutzen" zurückfällt. Viele Regelungen sind unpräzise, der Interpretationsspielraum entsprechend groß. Die chronische Unterfinanzierung der Schulen stellt dabei das Haupteinfallstor für Werbemaßnahmen dar.
Einflussnahme im Feld der ökonomischen Bildung
Besonders augenfällig ist die lobbyistisch motivierte Einflussnahme mittels Unterrichtsmaterialien im Feld der ökonomischen Bildung. Nicht wenige der 250 Initiativen, die vorgeben, sich um die ökonomische Bildung verdient zu machen, wollen tatsächlich nur mit ihr verdienen. Im Hintergrund steht das Anliegen, die ökonomische Bildung mit einem Unterrichtsfach "Wirtschaft" aufzuwerten, in dem zuvorderst "Finanzielle Bildung" und "Entrepreneurship Education" gelehrt werden sollen. Die von den verschiedenen Akteuren gestreuten Lernmaterialien zielen zumeist auf unternehmensnahe Weltbilder ab, indem sie einseitig unternehmerische Akteure und deren Interessen beleuchten.
Betriebswirtschaftliches Denken als Dreh- und Angelpunkt
Mit dem im Kontext der "Entrepreneurship Education" verfolgten Aufbau von Schülerfirmen wird das betriebswirtschaftliche Denken zum Dreh- und Angelpunkt von Lehr- und Lernprozessen erklärt. Auch das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Aktivitätennetzwerk Unternehmergeist in die Schulen nimmt allein die berufliche Selbständigkeit in den Blick. Dieser inhaltlichen Verengung auf die "Weckung von Unternehmergeist" ist entgegenzuhalten, dass neun von zehn Schülerinnen und Schülern später als abhängige Beschäftigte berufstätig sein werden. Die beruflichen Perspektiven der Mehrheit bleiben auf der Strecke.
Im Schatten der Wirtschafts- und Finanzkrise wird finanzielle Bildung vor allem von Kreditinstituten und Versicherungskonzernen als Erfolg versprechender Weg aus ihrer Legitimationskrise gedeutet. Nahezu sämtliche Initiativen zielen auf bloßes Faktenwissen - oder gar auf reine "Produktkunde". Was zählt, ist Wissen über Aktien und Anleihen, Devisen und Derivate sowie Fonds und Futures. Eine Analyse der Wirtschafts-, Finanz- und Eurokrise hingegen wird ausgespart. Die Kritik am schulischen Engagement derartiger Initiativen zielt gerade im Kontext ökonomischer Bildung auch auf die externen Referentinnen und Referenten, die in Vertretung ihrer Unternehmen - oder eben ihrer selbst - in die Klassen kommen.
Große Aufmerksamkeit erregte zuletzt der Verein Geldlehrer Deutschland e.V. Knapp 100 Vermögens- und Finanzberater sind dort engagiert und haben nach eigenen Angaben mittlerweile mehr als 3.200 Unterrichtsstunden erteilt, in denen Schülerinnen und Schüler angeleitet werden, Sparpläne, Ratenkredite und Altersvorsorge zu berechnen. Zwar sind diese "Geldlehrer" laut "Ehrenkodex" gehalten, Werbemaßnahmen im Unterricht zu unterlassen, aber natürlich liegt der Verdacht nahe, dass die "Geldlehrer" ihre Arbeitszeit nicht ohne Grund hinter den Schultoren verbringen. Da sie für ihre dreitägige Ausbildung 2.900,- Euro zahlen, darf erst recht vermutet werden, dass sie in den Klassenzimmern gezielt für ihre Finanz- und Versicherungsprodukte werben, indem sie die staatliche Umlagefinanzierung schlecht- und das privatwirtschaftlich organisierte Kapitaldeckungsprinzip schönreden.
Auch das schulische Engagement der millionenschweren Initiative My Finance Coach wirft die Frage auf, ob das knappe Zeitkontingent 12-Jähriger auf die Fragen "Wie sorge ich privat für das Alter vor?", "Wie betreibe ich bei meinen Finanzanlagen Risikodiversifikation?" und "Wie versichere ich mich richtig?" verwandt werden sollte. Eine zu kritischem Bewusstsein erziehende finanzielle Bildung, die auf die Gefahren von Missbrauch durch Finanzintermediäre verweist oder vor finanziellen Risiken bei Geldanlagen warnt, findet so jedenfalls nicht statt. In dem Materialordner zum Thema "Sparen" etwa werden die Risiken von Aktien und Anleihen niedriger Bonität oder hoher Volatilität ebenso ausgeblendet wie Inflationsrisiken, Kreditfallen oder Falschberatungen. Zudem erteilen die Finance Coaches der beteiligten Gründungsunternehmen Allianz, Grey und McKinsey auf Basis der umfassenden Materialsammlung Unterricht. Die Liste der Kooperationspartner ist mit mehr als 60 Unternehmen und Organisationen außergewöhnlich lang. Der Versicherungskonzern Allianz, die Deutsche Börse, die Kreditbank, die Cornelsen-Akademie, die Klett-Mint GmbH, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG und die Unternehmensberatung McKincey und Company, sie alle reihen sich in das Lobbybündnis ein. Aber warum unterstützen auch die OCD, die UNESCO und der Deutsche Philologenverband diese privatwirtschaftliche Initiative. Glauben sie ernsthaft, dass externer Sachverstand über Unternehmensmitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den schulischen Regelkontext Eingang finden sollte? Müssen nicht gerade sie sich nicht die Frage stellen, warum Vermittler von Strukturbetrieben Schulen besuchen dürfen, um potenzielle Kunden zu werben, indem sie erst deren Ängste vor Altersarmut schüren und dann die private Altersvorsorge als Allheilmittel propagieren?
Kernargumente gegen Lobbyismus in Schulen
Womöglich und hoffentlich erkennt die Politik allmählich, dass Werbung in Schulen einen nicht tragfähigen Zustand darstellt. Es bleibt zu hoffen, dass folgende Kernargumente der Kritiker endlich Gehör finden:
1. Schulen sind der Auf- und nicht der "Verklärung" verpflichtet, dürfen folglich keine Weltbilder heranzuzüchten.
2. Da Kinder und Jugendliche im Umgang mit Meinungen vergleichsweise unerfahren sind, müssen die ihnen vorgetragenen Standpunkte behutsam ausgewählt werden. Die Umworbenen können sich den unterrichtlich eingebetteten "Werbeveranstaltungen" aufgrund des schulischen Pflichtcharakters schließlich nicht entziehen.
3. Schülerinnen und Schüler wissen den im Unterrichtskontext vermittelten Eindruck von Seriosität und Neutralität der externen Experten nicht in jedem Einzelfall zu enttarnen. Schon deshalb müssen sie vor externen Sachverständigen, denen mit ihrer Einbeziehung in den Pflichtschulkontext eine hohe Glaubwürdigkeit zugeschrieben wird, geschützt werden.
4. Lernprozesse sind erfahrungsgemäß nur dann erfolgreich, wenn Argumente sachlogisch generiert, analysiert und reflektiert werden. Auf kritische Reflexion zielen die Aktivitäten der Werbetreibenden aber gerade nicht.
5. Die Übernahme des Unterrichts durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Privatunternehmen mit eigenen Unterrichtsmaterialien hat weitreichende Konsequenzen für die öffentliche Wahrnehmung des Lehrerberufs, erfährt die professionsbezogene Ausbildung mit dieser Form der "Öffnung von Schule" doch einen nachhaltigen Reputationsverlust.
6. Das auf Allgemeinbildung zielende Schulwesen wird durch diese schleichende Privatisierung zu einem Handlungsfeld degradiert, in dem Unternehmensrepräsentanten frei von curricularen Vorgaben agieren können. Damit wird kein Verhältnis unter gleichen geschaffen, wie es die Begriffe Bildungs- und Lernpartnerschaft suggerieren, sondern ein Ungleichgewicht gefördert, dass sich in finanziellen und inhaltlichen Abhängigkeiten niederschlägt.
7. Die frappierende Schieflage zwischen Schulen als staatlichen Institutionen einerseits und privatwirtschaftlichen Akteuren andererseits geht zu Lasten solcher Interessengruppen, die nicht über die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für schulische Lobbyarbeit verfügen - wie z. B. Wohlfahrts- und Umweltverbände, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Gewerkschaften oder klassische Nichtregierungsorganisationen.
8. Dieselben Akteure, die die Schulen mit Unterrichtsmaterialen zu Wirtschaftsthemen fluten, fordern seit Jahren die Einführung eines eigenständischen Fachs "Wirtschaft", wie es nun zum Herbst 2015 in Baden-Württemberg mit der Bezeichnung "Wirtschafts-, Beruf- und Studienorientierung" eingeführt wird. Dahinter steht die Behauptung, dass Wirtschaft- und Finanzwissen der Jugendlichen sei ungenügend, weshalb diesen Themen mehr Unterrichtszeit zugebilligt werden müsse. Aber wissen Schülerinnen und Schüler über Wirtschaft wirklich weniger als über Politik, Gesellschaft und Geschichte? Brauchen wir in Zeiten von Fremdenfeindlichkeit im Schatten von Pegida nicht dringend mehr politische Bildung?
9. Die meisten Unterrichtsmaterialien gefährden die eigenständige Urteilsbildung und die Ausbildung von Kritikfähigkeit. Sie unterminieren damit den Beutelsbacher Konsens, in dem 1976 mit dem Überwältigungsverbot, dem Kontroversitätsverbot und der Schülerorientierung drei Grundprinzipien der sozialwissenschaftlichen Bildung festgeschrieben worden.
10. Es ist nicht einzusehen, dass Schulbücher in beinahe allen Bundesländern einem engmaschigen Prüfverfahren unterliegen, die Unterrichtsmaterialien privater Content-Anbieter hingegen nicht. Dies stellt bis heute eine nicht zu rechtfertigende Zweiklassenbehandlung dar.
Kurzum: Längst ist im einstigen "Schonraum Schule" ein Kampf um die Köpfe der Kinder entbrannt, der die Unterrichtsqualität gefährdet und das auf Mündigkeit zielende emanzipatorische Bildungsverständnis aushöhlt. Je mehr Schulen sich für private Geschäftsinteressen öffnen und je mehr der Staat die Schulen dazu zwingt, weil er sie unzureichend finanziert, desto weniger wird die Schule ein Ort sein, an dem junge Menschen kritisches Denken und Handeln lernen. Wenn wir uns wirklich als "Bildungsrepublik" begreifen, muss die immer weitreichendere Instrumentalisierung der Schule als Ort der Werbung und des Sponsoring ein Ende finden. Es ist an der Zeit, dass die bildungspolitischen Entscheidungsträger den schulischen Allgemeinbildungsauftrag nicht länger privatwirtschaftlichen Interessen opfern, sondern die Schultore für dubiose Akteure schließen. Andernfalls drohen Schulen endgültig zu "Werbeplattformen" zu verkommen.
zur Person:
Tim Engartner, geb. 1976, ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt schulische Politische Bildung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung (ABL). Er studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Bonn, Oxford und Köln, bevor er an der Universität zu Köln promoviert wurde. Derzeit nimmt er ein Fellowship an der Columbia University wahr. Er berät die Initiative Schule und Arbeitswelt in Fragen der sozioökonomischen Bildung.