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Wir trauern um Jürgen Strauß

Die IG Metall Bildungspolitik hat einen bedeutenden Wegbegleiter verloren

14.10.2015 Ι Jürgen Strauß ist am 28. September 2015 in Berlin Neukölln gestorben, Er wurde 74 Jahre alt. Wir verlieren mit ihm einen Freund, Kollegen und konstruktiv-kritischen Wegbegleiter der gewerkschaftlichen Bildungspolitik. Viele Erkenntnisse aus unserer langjährigen Kooperation mit Jürgen Strauß und der Sozialforschungsstelle Dortmund sind im Berufsbildungsausschuss beim Vorstand der IG Metall vorgestellt, diskutiert und weiterentwickelt worden. Das war nicht immer ohne Widersprüche, jedoch immer interessant und spannend - und ab und zu auch lustig. Denn Jürgen war nicht nur ein kluger analytischer Kopf, er hatte auch viel Witz und Humor. Mit der Stimme der Wissenschaft verstand er es, gewerkschaftlichen Forderungen Gehör zu verschaffen. Einigen von uns war und wurde er ein Freund - wertgeschätzt und anerkannt wurde er von allen. Wir trauern um Jürgen Strauß.

Jürgen Strauß, Diplom-Soziologe hat in Frankfurt am Main (bei Adorno, Habermas, Friedeburg, Brandt, Fetscher, Lorenzer) studiert und - als 68er - an der Studentenbewegung teilgenommen. Nach einer praktischen Beschäftigung als Drucker und Setzer - daher stammte seine Genauigkeit im Umgang mit Wort und Schrift - verbrachte er seine Berufsjahre überwiegend in Forschungs- und Beratungstätigkeit bei der Sozialforschungsstelle an der technischen Universität Dortmund. Seine Schwerpunkte lagen in der Arbeitsforschung, Organisations- und Personalentwicklung, Berufliche Bildung, Bildungspolitik, Demographischer Wandel, Älterwerden in Betrieb und Gesellschaft.

 

Seine Forschungsperspektive war - in der Sprache der Wissenschaft - "subjektorientiert". Mit seinen eigenen Worten interessierte ihn vor allem, "wie die tiefgreifenden Wandlungen" der letzten Jahrzehnte in Arbeit, Betrieben und auf dem Arbeitsmarkt von den Betroffenen über Berufs- und Statusgruppen hinweg erlebt, erfahren und verarbeitet werden. Tiefgreifend heißt, dass in eingespielte Balancen von Persönlichkeit, Betrieb sowie Arbeit und Leben eingegriffen wird, dass die Art und Weise, wie man "sich eingerichtet hatte", nicht mehr funktioniert. "Was geschieht mit uns in der Arbeit, warum geschieht das, welche Anforderungen werden an uns gestellt und welche Probleme entstehen dabei?" (Jürgen Strauß: Der unfertige Arbeitskraftunternehmer, 2002).

 

Um Antworten zu finden, war für ihn als Soziologen die enge Zusammenarbeit mit GewerkschaftskollegInnen und Betriebsräten selbstverständlich und wichtig. Bei zahlreichen Projekten der IG Metall, die von der Hans-Böckler Stiftung, dem BMBF oder auch von der Europäischen Kommission gefördert wurden, war Jürgen Strauß bei der Sozialforschungsstelle Dortmund wissenschaftlich mitverantwortlich. Seine Arbeitsmethode zeichnete sich dadurch aus, in betrieblichen Fallstudien sehr genau hinzusehen; Probleme, Einstellungen und Verhaltensweisen von unterschiedlichen Belegschaftsgruppen Facharbeitern, Angestellten, Männern und Frauen, Jüngeren und Älteren "erfahrungsnah" zu ermitteln. Er begnügte sich nicht damit, wiederzugeben und zu analysieren, was betriebliche Experten, sei es im Management oder Betriebsrat zu berichten hatten, sondern nahm selbst als teilnehmender Beobachter am Schichtbetrieb teil, zum Beispiel bei John Deere in Mannheim oder in mittelständischen Betrieben der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen. Dort führte die Sozialforschungsstelle Fallstudien zum Thema "Organisatorischer Kompetenzen (auch von Facharbeit) bei Prozessen betrieblicher Reorganisation". In diesem Projekt rückten Jürgen Strauß und Wilfried Kruse das "Organisieren von unten", das alltägliche organisatorische Handeln von Facharbeitern ins Blickfeld. Sie zeigten auf, unter welchen betrieblichen "Lernarrangements" die Organisationskompetenzen von Facharbeitern und Angestellten genutzt, gefördert und vielleicht auch anerkannt werden konnten. Das war kreativ und es war neu. Organisationskompetenz über den eigenen Arbeitsplatz, die engere Arbeitsumgebung und das eigene Team hinaus, bezogen auf den betrieblichen Gesamtablauf und bei anstehenden Umstrukturierungen - das war etwas, das bis dato vor allem von Vorgesetzten und Management, von Planern und Entscheidern erwartet wurde.

 

Das Denken im Mainstream, das Wiederkäuen verbreiteter betrieblicher und gesellschaftlicher Sichtweisen war Jürgens Sache nicht. Ihn interessierte, wie neue Formen der Beteiligung von ArbeitnehmerInnen entwickelt und durchgesetzt werden können. Betriebsräte und Gewerkschaften sah er als Vorreiter neuer Perspektiven, sei es bei der Gestaltung betrieblichen Älterwerdens, bei der Entwicklung von Reformkonzepten zur beruflichen Bildung oder der Europäisierung der Gewerkschaften. Entsprechend richtete sich seine Forschung darauf, die Handlungsmöglichkeiten von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften zu erweitern. Der Wissenschaftler und Gewerkschafter Strauß kooperierte seit Anfang der 90er Jahre eng mit der Abteilung Berufsbildung, unserem heutigen Ressort Bildungs- und Qualifizierungspolitik. Eine erste intensive Zusammenarbeit mit unserer Abteilung fand im Rahmen des Leonardo Projektes der IG Metall statt: "Gruppenarbeit und ältere Arbeitnehmer". Es war ein europäisches Projekt. Das Ergebnis war eine Handlungshilfe, erarbeitet durch intensiven internationalen Austausch betrieblicher KollegInnen - einige Jahre vor dem Gesetz über Europäische Betriebsräte. Beteiligt waren die Betriebe John Deere in Mannheim, Volvo Construction Equipment in Schweden und (damals noch) Rover in Birmingham.

 

Parallel zur Neugestaltung der Metall- und Elektroberufe führten wir in den Jahren 2001 und 2002 gemeinsam das Projekt "Neue Leitbilder von Facharbeit" durch. Wir wollten wissen, ob und wie sich das Leitbild des/der selbständig planenden Facharbeiters/in seit der ersten Neuordnung verändert hatte. Hier kamen gewerkschaftliche "Berufemacher", Praktiker aus Betrieben und Wissenschaftler, die an Modellversuchen zu prozessorientierter, erfahrungsorientierter und unternehmerischer Facharbeit gearbeitet hatten zusammen. Es entstanden drei umfangreiche Dokumentationen und ein von Eva Kuda und Jürgen Strauß herausgegebenes Buch "Arbeitnehmer als Unternehmer". Es beschäftigte sich mit den Folgen "unternehmerischer Facharbeit" für Gewerkschaften und beruflicher Bildung. Ein Thema, das mit Zunahme prekärer Arbeitsformen, Outsourcing und Scheinselbstständigkeit aktuell geblieben ist.

 

Wieder aufgegriffen wurde von uns und Jürgen das Thema des demographischen Wandels im Betrieb von 2004 bis 2005 mit einer Reihe von sechs Betriebsrätekonferenzen: "Alternsmanagement in der Automobil- und Zulieferindustrie". Diskutiert wurden Handlungsansätze und strategische Konzepte einer geschlechts- und alterssensiblen Betriebsrätearbeit. Dabei stellten die Betriebsräte fest: Altern ist ein sozialer Prozess, der gestaltet werden kann. Und es ist eine Aufgabe, die eine breite Palette von Arbeitsbereichen umspannt - Sozialpolitik, Qualifizierung, Arbeitsorganisation u.a.m.

 

Nach seinem Eintritt in die Rente verstand sich Jürgen als tätiger und reisender Rentner mit Standort Berlin. Er arbeitete freischaffend weiter, aus der engen Zusammenarbeit mit uns entstand 2012 das Buch "Akademisierung der Arbeitswelt - Zur Zukunft der beruflichen Bildung". Es fußte auf einer Workshop-Reihe zur Akademisierung der Arbeitswelt, die in unserem Projekt eines gemeinsamen Leitbildes der IG Metall für die berufliche und akademische Bildung überführt und weiterentwickelt wurde.

 

 

Die Trauerfeier, um von Jürgen Strauß Abschied zu nehmen, findet am 23.November 2015 um 13:00 im Saalbau Gutleut, Rottweiler Straße 32, in Frankfurt, statt.

 

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Claus Drewes Ι 15.10.2015
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Jürgen ist nicht mehr unter uns. Mit tiefer Betroffenheit habe ich vom plötzlichem Tod erfahren. Mir fehlen die Worte, ich bin einfach nur traurig.

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