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Ein Thesenpapier

Digitalisierung der Arbeitswelt - Herausforderungen für die Berufsbildung

16.06.2016 Ι Bei der Digitalisierung handelt es sich um einen widersprüchlichen Prozess. Zum einen ist sie eine Rationalisierungsstrategie und -vision mit beträchtlichen Risiken für Beschäftigung, Entgelte und Arbeitsbedingungen. Zum anderen wohnt der Digitalisierung ein Potenzial der Humanisierung inne, das der Beseitigung gesundheitsverschleißender und dequalifizierender und der Schaffung anspruchsvoller und lernförderlicher Arbeit dienlich sein kann.

 

Ob Technikeinsatz und Arbeitsorganisation im digitalisierten Unternehmen gute Arbeit ermöglichen, wird davon abhängen, ob es Betriebsräten und Gewerkschaften gelingt, sich als "Humanisierungsaktivisten" im Digitalisierungsprozess mit eigenen Konzepten und hinreichender Verhandlungsmacht durchzusetzen. So kann einer "humanen Digitalisierung" Vorschub geleistet werden.

Die Berufsbildung ist ein Schlüsselelement, um das Potenzial für eine humane Digitalisierung zu erschließen. Die folgenden Thesen beschreiben Eckpunkte einer Berufsbildungspolitik, die die umfassenden Interessen der Beschäftigten an guter Arbeit und entsprechenden Arbeits- und Lernbedingungen zum Ausgangspunkt macht und die auf die Entfaltung der Humanisierungspotenziale digitaler Wertschöpfung zielt.

 

Bislang sind die Befunde über die Entwicklung der Qualifikationsanforderungen und Kompetenzprofile, die in der digitalen Arbeitswelt gefordert sein werden, widersprüchlich. Wird die Arbeit von morgen für Viele qualifizierter oder droht gar eine Dequalifizierung für jene Beschäftigtengruppen, die auf mittlerer Qualifikationsebene bislang durchaus anspruchsvolle Tätigkeiten verrichtet haben? Entschieden ist das nicht. Höchst unterschiedliche Szenarien der Qualifikationsentwicklung sind denkbar und sie sind abhängig vom eingeschlagenen Pfad der Arbeits- und Technikgestaltung: Ob an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine der Einzelne als Bediener, Betreiber, Kontrolleur oder Instandhalter der technischen Systeme agiert, entscheidet nicht nur über Aufgabenzuschnitt, Arbeits- und Leistungsbedingungen und Verdienstchancen der Beschäftigten, sondern auch darüber, ob die Arbeit qualifikationsfordernd und fördernd gestaltet ist.

 

 

 

Damit Beschäftigte in der Lage sind, die Veränderungen der Digitalisierung in den Betrieben kompetent zu bewältigen und mitzugestalten, ist eine frühzeitige Partizipation, wie sie lernförderliche Arbeitskulturen bieten, in zweifacher Hinsicht sinnvoll und notwendig: Erstens zur Gestaltung von Arbeit und Technik direkt bei der Entwicklung. Ziel muss es sein, dass die Beschäftigten die technologischen Veränderungen bei Arbeitsgegenständen, -methoden und -organisation partizipativ mitgestalten und beeinflussen können. Zweitens werden berufliche Lern- und Erfahrungsprozesse direkt bei der Einführung neuer Technologien und arbeitsorganisatorischer Konzepte angestoßen und gefördert, wenn die Beschäftigten partizipieren und eine lernförderliche Arbeitskultur herrscht.

Die humane Digitalisierung erfordert bereichsübergreifende Arbeitsorganisationskonzepte, die den Beschäftigten lernförderliche Arbeit mit hohen Dispositions- und Beteiligungsspielräumen bieten. Gute Arbeit und gute Bildung bedingen sich gegenseitig, indem sie Handlungsspielräume erweitern, Qualifikation fördern und Gesundheit erhalten. Beschäftigte sind dadurch in der Lage, ganzheitlich und selbstständig zu arbeiten, sie stellen Ansprüche an ihre Arbeit und sind Impulsgeber für Innovationen der Arbeitsorganisation und Produktgestaltung. Die Förderung von beruflicher, arbeitsplatznaher Weiterbildung und Qualifizierung sollten unverzichtbarer Bestandteil guter Arbeitsprozesse und gelungener Arbeitsplatzbiografien sein.

 

 

 

Auch wenn verlässliche Erkenntnisse über veränderte Aufgaben- und Kompetenzprofile in der digitalen Fabrik bislang noch nicht vorliegen, steht gleichwohl fest, dass der Neuzuschnitt des Aufgaben- und Tätigkeitsspektrums auch mit neuen Anforderungen an die Kenntnisse und Fertigkeiten der Beschäftigten einhergeht. An allgemeiner Bedeutung gewinnen dabei folgende Qualifikationsanforderungen:

  • Die Fähigkeit zur tiefgehenden Zusammenarbeit und Kommunikation in inter- und transdisziplinären Zusammenhängen;
  • die systematische Zusammenführung und Nutzung von Fähigkeiten und Kenntnisse aus höchst unterschiedlichen Fachbereichen (sog. "hybrider Qualifikationsprofile": etwa die Verbindung von Informatik und Produktionstechnik);
  • das Verständnis für IT und Datenstrukturen sowie dem Umgang mit Daten/Algorithmen;
  • die Kompetenz bei Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit die Persönlichkeitsrechte Betroffener zu beachten und Unternehmensdaten wirksam zu schützen.

Notwendig sind weitere differenzierte Studien und Forschungen. Erste Untersuchungen, wie beispielsweise das gemeinsame Projekt von Bundesinstitut für Berufsbildung und Volkswagen oder dem Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie mit der Uni Bremen, müssen erweitert werden. Es braucht einen transparenten Forschungsprozess, dessen Ergebnisse Ansatzpunkte für Gestaltungsmöglichkeiten bieten, die es für eine humane Digitalisierung zu nutzen gilt.

 

 

 

Um die Veränderungen einer humanen Digitalisierung mit gestalten zu können, sind ausgeprägte personale Kompetenzen sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zu eigenständiger und kollektiver Interessenverfolgung erforderlich. Persönlichkeiten mit Selbstbewusstsein sowie Fähigkeiten zu reflexivem Handeln und zu politischer Urteilskraft werden gebraucht. Bildung darf nicht technisch-funktionalistisch verkürzt werden. Es geht nicht nur um fachliche, sondern insbesondere auch um komplexe soziale Arbeitsanforderungen. Berufliche Kompetenz muss nicht nur passiv auf die Anforderungen der Arbeit reagieren, sondern die Fähigkeit zur aktiven Veränderung der Arbeit befördern.

Die Befähigung zur Reflexion und partizipativen Gestaltung von Arbeit und Technik schließt auch die Kompetenz zum selbstverantwortlichen Umgang mit Freiheiten orts- und zeitflexibler Arbeit ein. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation und Strukturierung des Arbeitsalltags außerhalb betrieblicher Routinen sowie zur Grenzziehung zwischen beruflichen und privaten Tätigkeiten sollten angesichts einer digitalen Arbeitswelt verstärkt gefördert werden. Ebenso erforderlich ist eine Sensibilisierung für Belange des Daten-, Arbeits- und Gesundheitsschutzes, wie z.B. den Respekt für die Erreichbarkeits- und Verfügbarkeitsgrenzen.

 

 

 

Die technologische Durchdringung des Arbeitsprozesses, die Entwicklung immer komplexer werdender Produkte und Dienstleistungen, die Verkürzung von Produktzyklen und ein beschleunigter und beständiger Strukturwandel werden den Arbeitsmarkt und die Qualifikationsanforderung der Zukunft prägen. In diesem Kontext ist die Forderung nach "Lebenslangem Lernen" zum Leitmotiv geworden.

Die Anforderung des permanenten Lernens kann als Chance, aber auch als Belastung und Stressor wirken. Sie korrespondiert allzu häufig mit der Forderung an die Beschäftigten, sich mit mehr Eigenverantwortung und -initiative den Anforderungen der beruflichen Weiterbildung zu stellen und an der Verbesserung der individuellen Marktposition zu arbeiten. Der Druck eines permanenten Weiterbildungszwangs erzeugt Statusängste und Überforderung. Es entsteht eine Erwartungshaltung, der nicht jeder zu entsprechen vermag und die im Falle eines Scheiterns die Verantwortung den Beschäftigten zuweist.

Eine arbeitskraft- und subjektzentrierte Perspektive setzt dem Begriff des "lebenslangen Lernens" ein anderes Verständnis von Lernen entgegen. Es geht um lebensbegleitendes Lernen, in dem das Subjekt selbstbestimmt, aber unterstützt, Lernprozesse gestaltet. Insbesondere bildungsferne Beschäftigte brauchen Motivation und Unterstützung, Ängste zu überwinden und Lernen als etwas Positives zu erfahren. Und nicht zuletzt spielen die Perspektiven für die Motivation von Individuen eine entscheidende Rolle. Die entwickelten Kompetenzen müssen eine sinnvolle Anwendung und materielle (Entgelterhöhung) sowie immaterielle Wertschätzung (Aufstieg bzw. Einsatz in entsprechenden Funktionen) finden.

 

 

 

Mit der Debatte um lebenslanges Lernen wird auch eine verteilungspolitische Botschaft ausgesendet, die die wachsenden Kosten einer permanenten Weiterbildung auf die Beschäftigten abwälzen will. Berufliche Anpassungsleistungen und soziale Übergänge drohen die Bestenauslese voranzutreiben und soziale Spaltung zu verstärken. Der Zugang zu guter Bildung ist Bestandteil der Verteilungsfrage.

In einer digitalen Arbeitswelt, die der Humanisierungslogik folgt, müssen allen Beschäftigten auf allen Qualifikationsebenen berufliche Entwicklungsperspektiven eröffnet werden. Die Basis dafür bildet die konzeptionelle und materielle Förderung von lebensbegleitendem und lebenszyklusorientiertem Lernen. Auch und gerade gering qualifizierten, gering verdienenden oder prekär beschäftigten Arbeitnehmer/-innen, die bisher wenig bis gar nicht an Weiterbildung partizipieren, ist der Zugang zu guter Bildung zu eröffnen. Es geht um pädagogische Konzepte, die zum Berufsabschluss führen und nicht überfordern, um die Sicherung eines zeitlichen Rahmens für Weiterbildung sowie um die materielle Absicherung des Bildungsprozesses in einem Weiterbildungsgesetz.

Mit dem Tarifvertrag zur Bildungsteilzeit und der Weiterentwicklung des WeGebAU-Programms hat sich die IG Metall bereits erfolgreich für verbesserte Bedingungen eingesetzt. Nun gilt es, dass die geschaffenen Möglichkeiten auch betrieblich genutzt und umgesetzt werden! So ist etwa eine nachqualifizierende duale Berufsausbildung machbar durch praktische Ausbildung im Betrieb als Arbeitszeit und theoretische Ausbildung bei einem Bildungsanbieter als Teilzeit. Darüber hinaus muss eine verzahnte gewerkschaftliche Bildungs-, Betriebs- und Tarifpolitik weiter für Verteilungsgerechtigkeit und Förderung von qualitativ hochwertiger beruflicher Qualifizierung eintreten.

 

 

 

Um in der digitalen Arbeitswelt kooperative Arbeitsformen zu realisieren und vertikale berufliche Mobilität zu ermöglichen, müssen berufliche Aufstiegswege systematisch weiterentwickelt werden. Folgende Aspekte müssen Teil einer solchen systematischen Weiterentwicklung sein:

  • Absolventen der Beruflichen Bildung müssen im Vergleich mit hochschulisch Ausgebildeten den gleichen Zugang zu verantwortlichen Aufgaben und Positionen haben. Das verlangt einen "Kulturwandel" in den Unternehmen!
  • Berufliche Fortbildungsabschlüsse nach Berufsbildungsgesetz qualifizieren bisher vorwiegend für Führungsaufgaben (Industriemeister, Fachwirte, Betriebswirt). Oft bekommen oder wollen Absolventen/-innen dieser Fortbildungen keine solche Aufgabe. Spezialisierte Karrieren mit dem Fokus der fachlichen Expertise sowie hybride Bildungsformate können attraktive, alternative Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Es gilt, die berufliche Aus- und Fortbildung aufeinander abzustimmen und unter Einbezug der hochschulischen Bildung weiter zu entwickeln, um erfolgreiche Fach- und Führungskarrieren zu unterstützen.

 

 

 

Mit der Digitalisierung wird den technischen Berufen der Ingenieurwissenschaften und der Informatik sowohl in der Entwicklung als auch in den daraus folgenden Arbeitsprozessen eine Schlüsselrolle zukommen. In kooperativen und durchlässigen Arbeitsformen werden neue Formen der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit an Bedeutung zunehmen. Ingenieure/-innen und Informatiker/-innen sind wesentliche Mitgestalter der digitalen Arbeitsprozesse. Die IG Metall hat ihr Verständnis von Beruflichkeit auf hochschulische Bildungswege erweitert.

Ausgelöst durch den Bologna-Prozess wurde (neben anderen Zielen) der Erwerb von Beschäftigungsfähigkeit am Arbeitsmarkt, die sogenannte Employability, als Qualifikationsziel von Studiengängen festgelegt. Aus gewerkschaftlicher Perspektive greift dieses Konzept zu kurz, weil es sich ausschließlich auf oft kleinteilige Qualifikationsanforderungen der Arbeitsmärkte bezieht. Stattdessen plädiert die IG Metall für die Orientierung an dem Qualifikationsziel der beruflichen Handlungs- und Gestaltungskompetenz auch in Studiengängen, um Studierende zu befähigen, kooperative und humane Lern- und Arbeitsbedingungen mitzugestalten und die akademische berufliche Qualifizierung in den Kontext sozialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu stellen.

Für eine solche humane Digitalisierung braucht es auch strukturelle Reformen im Hochschulbereich mit dem Ziel einer demokratischen und sozialen Hochschule. Im Wissen, dass wissenschaftliche Berufe im Austauschprozess zwischen Hochschule und Gesellschaft entwickelt werden, sowie in der Überzeugung, dass Studienreform auf demokratischen Beteiligungsprozessen beruhen sollte, setzt sich die IG Metall dafür ein, dass Wissenschaftler/-innen, Studierende, Sozialparteien und gesellschaftliche Gruppen an der Konzipierung und der Qualitätssicherung von Studienprogrammen zu beteiligen sind.

 

 

 

 

Die Erfahrungen mit der Weiterentwicklung von Berufen haben die Funktionsfähigkeit und Flexibilität des Systems unter Beweis gestellt. Die duale Erstausbildung bietet sehr gute Gestaltungsräume und Voraussetzungen, um fachliche Spezifika zu integrieren. Die bewährten Mechanismen der Curricular-Anpassung sind in der Lage, neue technologische oder arbeitsorganisatorische Anforderungen aufzunehmen.

Diese positive Ausgangslage darf nicht zu einem "Ausruhen" führen, vielmehr macht die durch Digitalisierung beschleunigte Entwicklung von Arbeit es noch wichtiger, systematisch Veränderungen in die Ordnungsarbeit aufzunehmen und Versäumnisse zu vermeiden. Aus- und Fortbildungsberufe müssen überprüft und weiterentwickelt werden, Anschlussmöglichkeiten an die berufliche Fortbildung und die hochschulische Bildung mit entsprechend verzahnten Bildungsformaten sind zu erschließen. Die Ordnungsarbeit muss weiter professionalisiert werden.

Die beschleunigten Veränderungen von beruflichen Anforderungen erfordern eine kontinuierliche und systematische Analyse von Berufsfeldern. Dafür fordert die IG Metall die Einrichtung von Berufsfeldkommissionen. Ziel muss es auch sein, eine berufliche Qualifikationsforschung auf Tätigkeitsebene zu implementieren sowie qualitative Unternehmensfallstudien durchzuführen. Dadurch können die Veränderungen von Arbeitsgegenständen, -mitteln und -organisation konkretisiert und die Folgen für die beruflichen Entwicklungspfade abgeschätzt und bestimmt werden. Dies schafft die Basis, um im Konsens der Sozialparteien sinnvolle Bildungsformate zu entwickeln, die den hohen Qualitätsansprüchen beruflichen Lernens entsprechen und sowohl Bedingung als auch Treiber einer humanen Digitalisierung mit hochwertigen Arbeitsplätzen sind.

 

 

 

Die Qualifizierung von betrieblichen Ausbildungspersonal und Berufsschullehrer/innen zur inhaltlichen und methodischen Modernisierung sind ein wesentliches Element, um die notwendigen Veränderungen in der Berufsbildung zu implementieren und den Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen. Neue technische Verfahren müssen auch für die Berufsbildung frühzeitig verfügbar gemacht werden.

Dabei geht es nicht nur um IT-Sicherheit oder neue Technologien, sondern insbesondere auch um beteiligungsorientierte Methoden des Lernens und eine Berufsausbildung, die Prozesskompetenz und systemisches Denken von Anfang an fokussiert. Wichtig ist die Förderung einer kritischen Reflexion und Auseinandersetzung mit den durch Digitalisierung intendierten und angestoßenen ökonomischen und arbeitsorganisatorischen Entwicklungen.

Modernisierung und Fortbildung schließt Berufsschulen und Lehrpersonal sowie den Fortbildungsbereich ebenso mit ein wie betriebliche Ausbilder/-innen und Ausbildungsleitung. Die Personalentwicklung in Betrieben sollte junge Ausbilder/-innen systematisch fördern und frühzeitig für eine methodisch-didaktische Ausgestaltung der betrieblichen Berufsbildung gewinnen. Berufsschulen brauchen qualifizierte und reflektierte Lehrkräfte sowie eine gute Ausstattung für Qualifikationsinhalte der digitalen Arbeitswelt, um die Qualitätsansprüche beruflichen Lernens einer humanen Digitalisierung zu verwirklichen.

 

 

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