Gesellschaftliche Verantwortung nicht vernachlässigen!
Erstmalig mehr Ausbildungsinteressierte mit Studienberechtigung als mit Hauptschulabschluss
In der Pressemitteilung heißt es "2016 registrierte die Bundesagentur für Arbeit erstmals in ihrer Geschichte mehr Ausbildungsstellenbewerber mit Studienberechtigung als mit Hauptschulabschluss, und bereits 2015 schlossen die Betriebe mehr Ausbildungsverträge mit Studienberechtigten als mit Hauptschulabsolventen ab. [...] Steigende Anteile von Studienberechtigten unter den Auszubildenden sind in allen Zuständigkeitsbereichen der dualen Berufsausbildung zu finden.
Verfügte beispielsweise 2010 im Handwerk noch mehr als jede zweite Person mit neuem Ausbildungsvertrag über einen Hauptschulabschluss (53,4 %), lag 2015 der Anteil von Auszubildenden mit mittlerem Abschluss oder mit einer Studienberechtigung mit 52,6 % bereits um fast zehn Prozentpunkte über dem Anteil der Personen mit Hauptschulabschluss (43,1 %)."
Quelle: BIBB 2016, S. 2
BIBB-Präsident Esser wertet diese Entwicklung als ein Zeichen der positiven Imageenticklung beruflicher Bildung und prognostiziert: "Wenn es immer weniger Hauptschulabsolventen gibt, muss die duale Berufsausbildung mehr Interessenten unter den schulisch höher Qualifizierten finden. Dies scheint zu gelingen. Für die Zukunft kommt es allerdings darauf an, Studienberechtigte noch stärker für die für sie eher untypischen Berufe zu interessieren. Nur so kann verhindert werden, dass sie untereinander vermehrt in einen Wettbewerb eintreten und ein wachsender Teil von ihnen bei der Ausbildungsplatzsuche leer ausgeht."
Dieser Prognose will auch WAP nicht wiedersprechen, doch gilt es aus gewerkschaftlicher Perspektive die Herausforderungen und Potenziale dieser Entwicklung etwas differenzierter zu betrachten. Die nachstehenden Fragen sollen dies verdeutlichen:
Die Bildungsexpansion in Deutschland, die ausdrücklich zu begrüßen ist, führt dazu, dass immer mehr Jugendliche mit einem höheren Schulabschluss Zugang zur beruflichen Bildung suchen und finden. Dies jedoch in zunehmender Konkurrenz zu Haupt- und Realschülern. Eine individuell zu tragende Konsequenz ist, dass die Wahrscheinlichkeit eines unerfüllten Ausbildungswunsches größer wird.
Jahr | Ausbildungsplatznachfrager | darunter: erfolglose Nachfrager | in % |
---|---|---|---|
2010 | 130.971 | 14.008 | 10,7 |
2011 | 145.854 | 15.234 | 10,4 |
2012 | 149.460 | 17.953 | 12,0 |
2013 | 153.840 | 20.993 | 13,6 |
2014 | 156.762 | 20.704 | 13,2 |
2015 | 165.033 | 21.357 | 12,9 |
Quelle: BIBB 2016, S. 23
Es zeigen sich hierbei erste Orientierungstendenzen, dass Abiturienten auch Ausbildungsberufe wählen, die traditionell als unattraktiver aus Sicht der Zielgruppe bewertete werden. D.h., sie treten in klassische Ausbildungsberufe ein, die bisher von Haupt- und Realschülern besetzt werden. Im Verähltnis 2015 zu 2010 sind dies z.B.
- bei klassischen Hauptschulberufen: Zweiradmechatroniker/-in [+ 6,3%], Holzmechaniker/-in [+ 7,7%], Polsterer/ Polsterin [+ 13,1%]
- bei klassischen Realschulberufen: Elektroniker/-in für Automatisierungstechnik [+ 13,7%], Werkstoffprüfer/-in [+ 15,5%], Elektroniker/-in für Informations- u. Systemtechnik [+ 19,3%]
Die statistisch "positive Betrachtungsweise" vorweg: Aufgrund des demografischen Wandels und der Bildungsexplansion verringert sich die Anzahl der Hauptschulabschlüsse kontinuierlich. Weiterhin sind die wesentlichen "Mangelberufe", also Berufe bei denen es ein deutlich höheres Ausbildungsplatzangebot als Ausbildungsinteressenten gibt, dem Bereich der klassischen Hauptschulberufe zuzuordnen (nicht repäsentativ für den Verantwortungsbereich der IG Metall). D.h., es fehlt in der statistischen Betrachtung insbesondere an Hautpschülern.
Dies suggeriert, dass somit ein verringertes Ausbildungsplatzangebot für die Zielgruppe, welches sich zum einen durch technologische Entwicklungen (Digitalisierung) und durch Verdängungsprozesse zu ergeben scheint, kein größeres Problem darstellen sollte.
In der Realbertrachtung zeigt sich jedoch dass die Aufnahmefähigkeit des Ausbildungsmarktes der Zielgruppe immer schlechtere Chancen bietet. D.h., trotz sinkender Zahl an Hauptschülern, steigt die relative Anzahl derer die erfolglos einen Ausbildungsplatz suchen.
Jahr | Ausbildungsplatznachfrager | darunter: erfolglose Nachfrager | in % |
---|---|---|---|
2010 | 209.976 | 26.850 | 12,8 |
2011 | 203.328 | 23.223 | 11,4 |
2012 | 192.117 | 23.300 | 12,1 |
2013 | 179.691 | 24.658 | 13,7 |
2014 | 169.671 | 23.795 | 14,0 |
2015 | 161.628 | 23.233 | 14,4 |
Quelle: BIBB 2016, S. 23
Sie konkurrieren somit nicht nur gegen höhere Schulabschlüsse in der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz sondern unterliegen in einem besonderen Maße einem zu geringen Ausbildungsplatzangebot und regionalen "Matching-Problemen".
Die Betriebe müssen sich in Abhängigkeit zu den regionalen Gegebenheiten verstärkt auf heterogene Bewerberstrukturen einstellen. Im Sinne der eigenen Fachkräftesicherung sind sie je nach Branche und Region darauf angewiesen neue Zielgruppen (z.B. Abiturienten) für die Ausbildung zu gewinnen oder weichen gar auf alternative Rekrutierungswege aus (z.B. auf dual Studierende, wenn es die Arbeitsstrukturen zulassen).
Aus (Bildungs-)Ökonomischer Betrachtung macht es für den Betrieb kurz- bis mittelfristig auch Sinn auf die Rekrutierung höherer Bildungsniveaus zu setzen, da sie eine höhere Flexibilität und Effizienz als Arbeitskraft "versprechen" und sich die Ausbildung "reibungsloser" gestalten lässt. Aufgrund der strukturierten Ausbildungsvergütung erwachsen dem Betrieb durch diese Form der Ausbildungsplatzbesetzung auch keine Mehrkosten zu diesem Zeitpunkt.
Die Rechnung verändert sich aber dann, wenn sich der individuelle Wunsch nach weiteren Karrierewegen ergibt - hierfür hat die IG Metall auch den Bildungsteilzeit tariflich eingeführt. D.h., die Betriebe müssen den jungen Fachkräften Angebote machen, die es ihnen erlaubt, weitere Bildungs- und Karrierewege innerhalb des Betriebes zu gehen, da sie ansonst den Arbeitgeber bei günstigen Arbeitsmarktverhältnissen wechseln.
Die Betriebe stehen aber auch in der gesellschaftlichen Verantwortung allen Bildungsniveaus ein Ausbildungsangebot machen zu können. Hierfür wurden auch unter maßgeblicher Mitwirkung der Gewerkschaften die Assistierte Ausbildung, ausbildungsbegleitende Hilfen und Einstiegsqulaifizierungen geschaffen. Und von den IG Metall wurden Fördertarfverträge durchgesetzt.
Die Argumente gegen die Auabildung vermeintlich schwächerer Jugendliche werden somit immer gehaltsloser.
Gesellschaftliche Verantwortung nicht vernachlässigen!
Das sozialdemokratische Versprechen "Aufstieg durch Bildung" gilt weiterhin als (berufs-)bildungspolitische Verantwortung der IG Metall. Auch wenn nich jedem Einzelnen eine subjektiv adäquat-empfundene Karriere eröffnet werden kann, sollte es in unserem Interesse liegen,allen Jugendlichen ein Angebot machen zu können, das sie selbsttändig und selbstbewusst ihren Bildungs- und Karriereweg beschreiben und beschreiten können.
Hierfür ist die Gestaltung der betrieblichen Ausbildungsplatzzugänge eine wichtige betriebs- und gesellschaftspolitische Aufgabe unserer Betriebsräte vor Ort. Sie begleiten vermeintlich schwächere Schüler/innen auf ihrem Weg zu kompetenten Fachkräften - egal ob diese von der Haupt-. Realschule, dem Gymnasium oder mit einem abgebrochenen Studium kommen. Alle starten mit gleichen Chancen in ihre berufliche Karriere.
Ausbildung
Auf allen Ebenen der beruflichen Bildung, engagieren sich Gewerkschafter/innen.
Gemeinsam haben wir in den letzten Jahrzehnten ein "Kulturgut" geschaffen, welches an alle Jugendlichen in unserem Verantwortungsbereich insbesondere ein Signal richtet "Hier sied Ihr richtig und wichtig!".
Unsere Ausbildungsberufe sind ausdrücklich für alle Bildungsniveaus geschaffen. Dies sichert die IG Metall seid über 60 Jahren bildungspolitischer Arbeit auf Bundesebene zu.
Der wahre Erfolg liegt jedoch in den Betrieben.
Unsere Betriebsräte und JAVen organisieren in unzähligen Diskussionen und Vereinbarungen einen verantwortlichen Umgang in der Gestaltung des betriebliche Ausbildungsplatzangebots nach dem Motto "die Richtigen, nicht die Besten wählen" und geben damit auch vermeintlich leistungsschwächeren Jugendlichen eine berufliche Perspektive.