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Interview mit dem IAB-Forscher Prof. Lutz Bellmann

Industrie 4.0: Weiterentwicklung von Kompetenzen bei Produktionsbeschäftigten ist eine zentrale Herausforderung

27.03.2018 Ι Industrie 4.0 wird die Produktionsarbeit verändern. Die Beschäftigten in der Produktion müssen sich damit auf veränderte Qualifikationsanforderungen einstellen. Prof. Lutz Bellmann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) hat zu den Chancen und Risiken der Digitalisierung älterer Produktionsbeschäftigter geforscht. Unser Bonner WAP-Korrespondent Ulrich Degen sprach mit dem IAB-Forscher. "Für die Gewerkschaften ergeben sich deshalb Gestaltungsaufgaben nicht nur im Bereich der Qualifizierungs- sondern auch der Einkommenspolitik", sagt der IAB-Forscher Bellmann.

Ulrich Degen: Sind die Beschäftigten in der Produktion eigentlich ausreichend darüber informiert, was Industrie 4.0 für Produktion und Qualifikation bedeutet?

 

Lutz Bellmann: Die anstehenden Veränderungen im Bereich der Arbeitsorganisation, der Arbeitsprozesse und der Arbeitsergebnisse lassen sich gegenwärtig noch nicht vollständig überblicken. Deshalb ist es für alle Beteiligten schwierig, sich ausreichend zu informieren. Aber gerade die Gewerkschaften und andere Verbände sind in diesem Bereich erfreulicherweise sehr aktiv und versuchen, die Wissensbasis der Beschäftigten und der Mitglieder der Arbeitnehmervertretungen zu erweitern.

 

Setzen sich ältere Produktionsbeschäftigte denn mit den Veränderungen auseinander? Haben sie eine Vorstellung von den durch die Digi­talisierung auf sie zukommenden fachlichen Anforderungsänderungen?

 

In der Tat ist das Bewusstsein für die Bedeutung der Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Fähigkeiten und Kompetenzen in der Gruppe der Produktionsarbeit sehr ausgeprägt. Unsere Auswertungen aus dem Linked Personnel Panel, eine Auswertung, die wir bei ca. 7500 Beschäftigten im Jahre 2015 durchgeführt haben, zeigt, dass je nach Alter der Befragten 76 bis 79 % als Folge der Digitalisierung die Notwendigkeit der Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen sehen, während nur 15 % angaben, dass die technologischen Neuerungen ihnen weniger Fähigkeiten und Kompetenzen abverlangen. Ich denke, dass zukünftig die Gruppe derjenigen, die die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung sehen, eher größer und die andere Gruppe eher kleiner werden wird.

 

Die Betroffenen selbst denken darüber nach und auch in der Wissenschaft wird die Frage diskutiert, ob und in welchem Umfang bisherige Tätigkeiten oder gar Berufe durch Industrie 4.0 ersetzt werden. Wobei man aber generell festhalten muss, dass nicht Berufe, jedoch Tätigkeiten ersetzt werden. Wie sehen Sie für die Betroffenen das Potenzial an Substituierbarkeit - und wie verändern Ihres Erachtens Digitalisierungsprozesse Berufszuschnitte bzw. -inhalte?

 

Sie haben recht: Viele berufliche Tätigkeiten können potentiell von Computern oder computergesteuerten Maschinen übernommen werden. Gleichzeitig verändern sich einige Berufe hinsichtlich der damit verbundenen Tätigkeiten. Neue Tätigkeiten oder Berufe kommen hinzu. Insgesamt ändern sich jedoch die Berufe langsamer als die Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien.

 

Sie rekurrieren auf die von vielen Analysen zu künftigen Qualifikationsanforderun­gen prognostizierten Annahmen, dass die Nachfrage nach Fachkräften mit komplexen und hoch komplexen Fertigkeiten steigt. Gleichzeitig die Nachfrage nach Helfern und (einfachen) fachlichen Tätigkeiten sinkt. Daraus wird von nicht wenigen Analysen abgelei­tet, dass es für die betriebliche Aus- und Weiterbildung sehr stark darauf ankäme, konzeptionell-kreatives Denken zu fördern und Kommunikations- und Abstraktionsfähigkeit sowie das Verständnis von komplexen Prozessen zu fördern. Sollten die Grundlagen dafür nicht schon in der betrieblichen Erstausbildung angelegt sein?

 

Ideal wäre es sicherlich bei der beruflichen Erstausbildung entsprechende Anpassungen vorzunehmen, aber dies wird in vielen Fällen nicht mehr möglich sein, weil die berufliche Erstausbildung bereits abgeschlossen wurde und Umschulungen nur bedingt möglich sind. Deshalb ist die berufliche Weiterbildung von entscheidender Bedeutung.

 

Damit wären wir nochmals bei der Frage, einer frühzeitig einsetzen­den und altersgerechten Weiterbildung, die aus Ihrer Sicht sowohl für Ältere als auch Jüngere günstig sei. Und eigentlich sollten das die Betriebe auch goutieren, da sie wissen, welche Stärken ältere Beschäftigte im Vergleich zu jüngeren Beschäftigten haben. Wenn sie zudem wissen, dass wie Sie sagen, die Aneignung und Entwicklung der Basis-Kompetenzen mit zunehmendem Alter unterschiedlich erfolgt, ziehen die Betriebe hier aus den vorliegenden Befunden die richtigen Schlüsse?

 

Das ist eine sehr schwierige Frage. Auch aktuelle Studien zeigen, dass die Gründe für die unterschiedliche Weiterbildungsbeteiligung bei den Älteren wie die Kürze des verbleibenden zeitlichen Horizonts der Beschäftigten, die Lernförderlichkeit der Arbeitsumgebung, die Transparenz über Weiterbildungsangebote und die Zufriedenheit mit dem Erreichten weiterhin bestehen. Weitere Studien haben nachgewiesen, dass Ältere sich kaum weniger als Jüngere an Weiterbildungsmaßnahmen beteiligen. Insofern kommt es sehr darauf an, welche Inhalte die Weiterbildungsmaßnahmen haben.

 

Sie haben in einer Erhebung zwischen 2014 und 2015 Beschäftigte zu den Folgen der Digitalisierung befragt, darunter auch Ältere. Was waren aus Ihrer Sicht die gravierendsten Folgen, die ältere Beschäftigte mit der zunehmenden Digitalisierung ihrer beruflichen Tätigkeiten in Zusammenhang brachten und wo vermuteten diese für ihre be­triebliche Zukunft eine Entlastung und wo ggf. eine weitere Belastung?

 

Die größten Herausforderungen für die Älteren bestehen in der Tat neben der betrieblichen Weiterbildung im Multitasking, d.h. dass immer mehr Aufgaben gleichzeitig erledigt werden sollen. Reduzierte Anforderungen bei den körperlichen Belastungen gibt es bei etwa einem Drittel der Beschäftigten. Etwa ein Drittel der Beschäftigten sagt auch, dass sie mehr Entscheidungsfreiheit bei der Gestaltung ihrer Arbeit hätten.

 

An dieser Stelle wäre einmal Gelegenheit, etwas zu dem Konzept und zu den Me­thoden Ihrer Untersuchung zu sagen und ergänzend auch den Besonderheiten des sog. Linked Personnel Panels, womit Sie ja insbesondere ältere Arbeitnehmer in der 'intelligen­ten Fabrik' - smart factory - der Industrie 4.0 befragt haben.

 

Sehr gerne. Im Rahmen des IAB-Betriebspanels wurden in den Jahren 2012 bis 2017 zusätzliche Befragungen von Personalverantwortlichen und Beschäftigten durchgeführt. Dabei ging es im Wesentlichen um die Instrumente des Personalmanagements, der Unternehmenskultur sowie die Einstellungen von Mitarbeitern.

 

Wenn Sie feststellen, dass weibliche Produktionsbeschäftigte die Notwendigkeit einer  Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen weniger hoch ansiedeln, als dies bei männlichen Beschäftigten der Fall ist, hat das sicher auch mit dem Selbstbild dieser Beschäftigten zu tun und möglicherweise den objektiven Schwierigkeiten, denen sie aus­gesetzt sind.

 

In der Tat hat sich gezeigt, dass unter den älteren Produktionsarbeitern vor allem die Männer die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Fähigkeiten und Kompetenzen stärker wahrnehmen. In der Gruppe der über 55jährigen Beschäftigten ist der entsprechende Anteil der Männer bei 81 % und bei den Frauen "nur" bei 74 %. 

 

In Ihrem Bericht konnten Sie ja zeigen, dass die immer weitere Digitalisierung in der Produktion für ältere Beschäftigte durchaus körperliche Entlastungen mit sich bringen kann, auf jeden Fall aber mit großen Herausforderungen an die Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen durch geeignete Weiterbildungsmaßnahmen verknüpft ist. Entscheidend für ihre zukunftsfähige (Weiter-)Beschäftigung wird aber sein, ob sie Weiterbildungsangebote auch wahrnehmen und wie ist hier die Situation?

 

Vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung der Herausforderungen und Entlastungen von in der Produktion Beschäftigten durch die Digitalisierung ist die Entwicklung der Teilnahme an Kursen der beruflichen Weiterbildung besonders spannend. Entsprechende Fragen wurden ebenfalls in der in den Jahren 2013 und 2015 durchgeführten Befragungswellen des Linked Personnel Panels gestellt. Es zeigte sich über alle Arbeitsgruppen ein deutlicher Anstieg der Teilnahme an Weiterbildungskursen, für welche die Beschäftigten von ihrem Arbeitgeber jeweils im Jahr vor der Befragung freigestellt worden sind. Bei der Gruppe der Beschäftigten über 55 Jahren war der Zuwachs mit 8 Prozentpunkten beachtlich. Allerdings ist das Ausgangsniveau bei dieser Altersgruppe auch niedriger als bei anderen.

 

Die Besonderheit von Industrie 4.0 ist ja, dass "...sich Produkte in der virtuellen Welt entwickeln, simulieren und testen lassen, bevor der erste Prototyp fertig ist und die erste Produktionslinie entsteht. So können Produkte schneller, flexibler, effizienter, ressourcenschonender und qualitativ hochwertiger gefertigt werden" sagt der Chef von Siemens, Joe Kaeser. Eine gewaltige Herausforderung für ältere Arbeitnehmer. Ist da nicht auch neben Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft insbesondere die Gewerkschaft IG Metall herausgefordert?

 

Das Substituierbarkeitspotenzial von Tätigkeiten und Berufen bei Produktions- und Bürotätigkeiten betrifft häufig mittlere Qualifikations- und Einkommensgruppen. Dadurch entsteht eine Polarisierung der Beschäftigung, die sich zunehmend in den höchst- und niedrigstbezahlten Berufen konzentriert. Die Herausforderungen durch die technologischen Neuerungen erfordern eine ständige Weiterbildung der Fähigkeiten und Kompetenzen bei allen Tätigkeitsniveaus. Für die Gewerkschaften ergeben sich deshalb Gestaltungsaufgaben nicht nur im Bereich der Qualifizierungs- sondern auch der Einkommenspolitik. Nach den Analysen des IAB wird sich der Stellenabbau zwar in Grenzen halten, sollte aber flankiert werden durch die Unterstützung bei der Stellensuche.

 

 

 

..zum Weiterlesen:       Lutz Bellmann: Chancen und Risiken der Digitalisierung älterer Produktionsarbeiter. IAB-Forschungsbericht 15/2017. Aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB). ISSN 2195 2655, 12. Dezember 2017.

 

 

Wer ist Lutz Bellmann:                 Prof. Dr. Lutz Bellmann ist Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschaftslehre, insbes. Arbeitsökonomie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Leiter des Forschungsbereichs 'Betriebe und Beschäftigung' und Leiter des IAB-Betriebspanels am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Re­gensburger Str. 104, 90478 Nürnberg, Telefon 0911 179-3046; mail: lutz.bellmann@iab.de.

Sein Forschungsfeld ist die Arbeitsmarktökonomik, insbesondere Fragen der Lohnstruktur und Be­schäftigungsdynamik, der betrieblichen Aus- und Weiterbildung sowie die Beschäftigung älterer Ar­beitnehmer. Er hat u.a. ein von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zum The­ma "Einstellung und (Weiter-)Beschäftigung Älterer in der Chemischen Industrie" abgeschlossen. https://50jahre.iab.de/wissenschaft-trifft-praxis-tagungsbericht-zur-konferenz-berufe-in-der-digitali­sierten-arbeitswelt-am-21-und-22-juni-2017-in-amberg/

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