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Statement Prof Becker

Einschätzungen zu einem gemeinsamen Leitbild für die betrieblich-duale und akademische Berufsbildung

23.10.2015 Ι Prof. Matthias Becker ist gelernter KFZ-Mechaniker und seit 1997 Professor in Flensburg. Er bildet dort angehende BerufsschullehrerInnen mit dem Schwerpunkt Fahrzeugtechnik aus. WAP hat ihn gebeten, das Leitbild allgemein einzuschätzen, zum Konzept der Beruflichkeit Stellung zu nehmen und auch Anregungen für die weitere Diskussion zu geben. Positiv schätzt Matthias Becker die im Leitbild enthaltenen 15 Qualitätsmaßstäbe für Beruflichkeit ein. Allerdings stellen sich für ihn zwei Fragen: Erstens stellt er die Frage, ob die im Leitbild entwickelten Maßstäbe für alle Bereiche hochschulischen Lernens gelten können. Zweitens treibt ihn die Sorge, ob mit zunehmender Akademisierung der Hochschulbereich nicht "Zielsetzungen von Beruflichkeit" definiert, die letztlich zu Lasten der spezifischen Qualität dualer beruflicher Lernprozesse gehen könnten. Überdies setzt sich Matthias Becker dafür ein, einer gemeinsamen Definition von Beruflichkeit auch ein gemeinsames Verständnis der Studienorientierung folgen zu lassen.

1. Leitbildfunktion


 

(Was hältst du von der Initiative der IG Metall, ein gemeinsames Leitbild als Kompass für betrieblich-duale und für hochschulische Bildung zur Diskussion zu stellen?)

 


In Zeiten, in denen auf den ersten Blick die klassische duale Berufsausbildung mit der Hochschulbildung zu konkurrieren scheint, liegt ein gemeinsames Leitbild für die Berufsbildung nahe. Eine solche Konkurrenz ist durchaus hinsichtlich der Wahl der Bildungsverläufe auszumachen, da immer mehr Jugendliche ein Studium anstreben und die Zahl der Ausbildungsplätze stagniert oder sinkt. Die duale Berufsausbildung steht mit der Hochschulbildung im Wettbewerb um Schulabsolventen. Ebenso kann eine Konkurrenz in manchen Arbeitsbereichen ausgemacht werden. Aber dort stellt sich bei genauerem Hinsehen die Konkurrenzsituation schon anders dar: Die Arbeitsmärkte, für die ausgebildet wird, sind nur sehr selten die gleichen. Und dort (Stichwort: duales Studium), wo der Versuch unternommen wird, gleiche Arbeitsmärkte zu bedienen, ist der Erfolg der Ansätze umstritten. Nicht selten fehlt den Absolventen dualer Studiengänge die betriebliche Praxis, die betriebliche Sozialisation und Erfahrung auf der einen Seite und die notwendige theoretische Fundierung auf der anderen Seite - negativ ausgedrückt. Positiv - zunächst aus Sicht der Betriebe - ist eine oft früh einsetzende Identifizierung mit den Unternehmen (die oftmals auch in Sachen Finanzierung und Gestaltung! an dualen Studiengängen mitwirken) und eine Ausrichtung der dualen Studiengänge auf die Anforderungen der Unternehmen und der Wirtschaft. Es muss hier also schon einmal genauer hingesehen werden, um welche Art des dualen Studiums (ausbildungsintegrierend, praxisintegrierend, berufsintegrierend, berufsbegleitend) es sich handelt und vor allem, wie dieses ausgestaltet ist. Ohne dieses zu vertiefen bleibt festzuhalten: Ein gemeinsames Leitbild macht dort Sinn, wo wirklich gleiche Zielsetzungen mit einer dualen Berufsausbildung und mit einer Hochschulbildung verfolgt werden. Bei dieser Betrachtung habe ich bewusst die politische Diskussion um eine Durchlässigkeit der Bildungsgänge und -verläufe zunächst außer Acht gelassen.

 


Die IGM hat durchaus ausgewogen und unter breiter Beteiligung von Expertinnen und Experten an einem gemeinsamen Leitbild gearbeitet und dabei sehr viele Aspekte von Beruflichkeit und Herausforderungen (Kapitel 2) mit einbezogen. Die " erweiterte moderne Beruflichkeit" greift dabei Lebenswirklichkeiten (Abschied vom Lebenszeitberuf, umfassende berufliche Handlungskompetenz für alle) auf und bietet dadurch tatsächlich eine Orientierungshilfe, um unabhängig vom Ausbildungsweg für einen Beruf Qualitätsmaßstäbe zu setzen. Aber: Bei der Bestimmung der Reichweite und Anwendbarkeit des Leitbildes muss ein differenzierter Blick auf die Bildungsgänge (die Prozesse der Ausbildung) und deren Zielsetzung gelenkt werden. Das wurde oben angedeutet. Mit Absicht habe ich auch von akademischer und nicht von hochschulischer Berufsbildung gesprochen, was impliziert, dass an Hochschulen (im Gegensatz zur dualen Berufsausbildung) eben auch andere Ziele verfolgt und daher auch andere Bildungsprozesse und Inhalte gewählt werden; diesen Gegensatz habe ich auf einer der IGM-Veranstaltungen zur Leitbilddiskussion bereits versucht, aufzuzeigen (vgl. https://wap.igmetall.de/wap_img/img/Beruflichkeit-Studium-Becker.ppt). In diesen Fällen ist und bleibt die Anwendung eines gemeinsamen Leitbildes schwierig. Vor allem dann, wenn die "Beruflichkeit" gar nicht die gemeinsame Orientierung für das Leitbild darstellt.

 


2. Beruflichkeit

 

(Ist Beruflichkeit heute noch oder gerade heute ein sinnvolles Leitbild für betrieblich-duale und für hochschulische Bildung?)

 


Nicht nur durch den (teils falsch verstandenen) Bologna-Prozess, sondern auch ganz praktisch durch einige Felder, in denen tatsächlich eine Akademisierung der Arbeitswelt stattfindet (Pflegeberufe, Dienstleistungsorientierung, Durchdringung akademisch geprägter Vorgehensweisen und Arbeitsmethoden bei einigen Berufen -  vgl. insbesondere Qualitätsmerkmal 12), wird Beruflichkeit zu einer sinnvollen gemeinsamen Orientierung. Doch Beruf ist nicht Beruf. Kfz-Mechatroniker/-innen reparieren immer noch Fahrzeuge, während der Beruf des Fahrzeugingenieurs darauf ausgerichtet ist, Fahrzeuge auf der Basis wissenschaftlich durchdrungener Prinzipien zu entwickeln und zu bauen. In einigen Bereichen wachsen allerdings Berufe der dualen Berufsausbildung und akademisch ausgebildete Berufsfelder tatsächlich zusammen (Pflege, IT). Es bleibt aber eine Herausforderung, Beruflichkeit differenziert zu betrachten, was ja eigentlich für eine Zielsetzung, ein gemeinsames Leitbild zu haben, widersprüchlich wirkt. Und einige Fragen sind auch bis heute nicht wirklich geklärt. Wenn Menschen einen Pflegeberuf zukünftig an einer Hochschule erlernen, werden diese dann tatsächlich eine besser ausgeprägte und umfassendere "berufliche Handlungskompetenz" besitzen? Oder findet "nur" eine Verlagerung zwischen Ausbildungsinstitutionen statt? Oder aber: Werden die Zielsetzungen der Hochschule dadurch in Richtung beruflicher Praxis verändert? Oder erfordert die berufliche Praxis heute tatsächlich ein so viel mehr an theoretischem Wissen (übrigens könnte man hier auch fragen, ob zusätzlich oder statt praktischem Wissen)? Bei der Beantwortung solcher Fragen wird man einige Argumente für eine positive wie negative Beantwortung finden. Ich kann beim besten Willen hier keine eindeutige Antwort auf diese Fragen finden. Vielmehr sehe ich bei der Kompetenzentwicklung in einem Beruf, welcher wirklich auf umfassende berufliche Handlungsfähigkeit ausgerichtet ist, auch eine eigene theoretische Fundierung, die der betrieblich-dualen Berufsbildung bislang eher abgesprochen wird (vgl. Becker 2012); z. B. indem die Übergänge in die Hochschulbildung immer noch selten und schwer sind, weil der Wert der in den Geschäfts- und Arbeitsprozessen eingebetteten Kompetenzen keine Anerkennung erfährt. Kritisch sehe ich daher, wenn akademisch geprägte Zielsetzungen von Beruflichkeit die Orientierung für das Leitbild bilden - da muss die IGM aufpassen! Konsequenz wäre nämlich, dass die eigenen Werte der betrieblich-dualen Berufsbildung (Erfahrungswissen, Könnerschaft, betriebliche Sozialisation und berufliche Identität) bei einer solchen Kehrtwende der Orientierungen auf der Strecke blieben. Zur Zeit sehe ich nur wenig Bewegung an den Hochschulen, um solche Werte anzuerkennen. Und die Konsequenz darf nicht sein, dass - weil sich die Hochschulen wenig bewegen - die betrieblich-duale Berufsbildung an derjenigen Beruflichkeit orientiert, welche die Hochschulen definieren. Insofern ist allein die Diskussion um ein gemeinsames Leitbild eine gute Idee.

 


3. Anregungen

 


(Welche Anregungen hast du zur Verbesserung/Ergänzung/Konkretisierung des vorliegenden Leitbildes?)

 

In Kapitel 6 schlägt die IGM Reformschritte vor, um die 15 Qualitätsmaßstäbe einlösen zu können. Einige dieser Empfehlungen können - wie oben diskutiert - eher negative Folgen für die betrieblich-duale Berufsbildung nach sich ziehen.

 

Z.B.: "die Studienorientierung in den Ausbildungsordnungen berücksichtigen"

 

Solange Studienorientierung bedeutet, den akademisch geprägten Zielsetzungen einer reinen Theoriebildung (ohne Zielsetzung an umfassender beruflicher Handlungskompetenz) an den Hochschulen hinterherzulaufen, wird die besondere Qualität der betrieblich-dualen Berufsbildung aufgegeben (vgl. Becker 2012, S. 155 ff.). Es müsste - unter Beachtung einer Definition von Beruflichkeit - eine gemeinsame Charakterisierung für "Studienorientierung" (vgl. ebd. S. 151) erfolgen. Insbesondere könnte man, wenn nur heute gültige akademische Definitionen von Studierfähigkeit Bestand behielten, die Berufliche Schule zu einer reinen allgemein bildenden Schule erklären und insbesondere die Berufsschule zu einer Art "Restschule" für die Vermittlung einer niederen allgemeinen Bildung. Mit der "Aufblähung" des Übergangssystems Mitte des letzten Jahrzehnts waren wir bereits ein Stück weit auf einem solchen bedenklichen Weg. Es sollte vielmehr an der Eigenständigkeit der Berufslaufbahnen festgehalten werden. Das Berufslaufbahnkonzept des Handwerks ist dazu ein guter Ansatz. Gleichzeitig ließe sich eine Verzahnung der betrieblichen und akademischen Bildungswege erreichen, wenn in beiden Bildungsgängen konsequent berufliche Kompetenzen als Zielsetzungen formuliert wären und in der Praxis diese Orientierung auch umgesetzt wäre. Da sehe ich dieses Ziel zur Zeit eher noch in den Hochschulen als nicht umgesetzt an.

 


Und so ist auch ein Ausbau von dualen Studiengängen allein nicht als Königsweg anzusehen. Dazu ist die Ausrichtung und Qualität dieser Studiengänge viel zu unterschiedlich, als dass die bisherigen Erfahrungen einen solchen Reformschritt so pauschal rechtfertigen würden.

 


4. Prinzipien des Lernens - Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lernkulturen

 


(Sind die im Bildungskonzept des Leitbildes genannten Lernprinzipien (S.20-29) als Qualitätsmaßstäbe zur Weiterentwicklung der betrieblich-dualen Berufsbildung geeignet? Was fehlt? Was würdest du anders formulieren?)

 


Die 15 Qualitätsmaßstäbe finde ich beinahe durchweg gelungen und angemessen formuliert. Was schwierig ist, das ist die Tatsache, dass einige der Maßstäbe sicher nicht durchgängig in den Hochschulen als Leitprinzipien anerkannt werden. Auch in Ingenieurstudiengängen bin ich auf Kollegen gestoßen, die mit einigem Stolz ausführten, dass sie bewusst keine Berufsorientierung im Studium verankern, sondern sich auf ingenieurwissenschaftliche Grundlagen und Prinzipien konzentrieren.

 


Die Maßstäbe (12) und (13) würde ich in der Richtung weiterentwickeln und ggf. umformulieren, so dass die besondere Qualität von "Praxiswissen" (implizites Wissen, Erfahrungswissen etc.) als eigenständige Dimension ein stärkeres Gewicht bekommt. Die jetzt verwendeten Formulierungen unterstellen allein ein Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis, Wissen und Handeln, Reflexion und Erfahrung. Erstgenanntes wird implizit allein der Wissenschaft/Hochschule und letztgenanntes stets allein der betrieblichen Berufsbildungstradition zugeordnet. So z. B.: "Berufliche Bildung ist darauf angewiesen, dass Praxis durch Wissenschaft erklärt wird" (S. 26). Das verklärt die eigenständige Qualität des in der Praxis selbst inkorporierten Wissens.

 

 

Quelle:
Becker, M. (2012): Entwicklung von Kompetenzen in der Ausbildung - gute Basis für "Studierfähigkeit"?. In: Kuda, E.; Strauß, J.; Spöttl, G.; Kaßebaum, B. (Hrsg.): Akademisierung der Arbeitswelt? Zur Zukunft der beruflichen Bildung. Hamburg: VSA - Verlag , S. 145-157.

 

Kurzvita:


Prof. Dr. Matthias Becker, Dipl.-Ing., Professor für die Berufliche Fachrichtung Fahrzeugtechnik und ihre Didaktik an der Europa-Universität Flensburg

 

Prof. Becker studierte nach der Ausbildung zum Kfz-Mechaniker (1982-1985), Berufstätigkeit und zweitem Bildungsweg Fahrzeugtechnik und Maschinenbau an der FH Köln (1988-1992). Er war in der Automobilindustrie als Ingenieur und als Kfz-Mechaniker sowie als freier Mitarbeiter im Kfz-Service tätig und absolvierte dann ein zweites Studium zum Lehramt für Berufliche Schulen in den Fächern Metalltechnik und Mathematik an der Universität Bremen. Er forscht im Kfz-Handwerk und der Automobilindustrie zu Fragen des Service, der Qualifizierung und der Berufsausbildung und ist Spezialist für die Diagnose und den Einsatz von IT-Systemen und speziell Expertensystemen im Kfz-Service und in der Produktionstechnik. Seit 1997 lehrt er an der Universität Flensburg und bildet dort Lehrkräfte für berufliche Schulen aus. Er promovierte in den Berufswissenschaften zur Diagnosearbeit im Kraftfahrzeughandwerk an der Universität Flensburg zum Doktor der Philosophie (2003), war von April 2004 bis Juni 2010 Juniorprofessor für die Berufliche Fachrichtung Metalltechnik und ist seit Juli 2010 Professor für die Berufliche Fachrichtung Fahrzeugtechnik. Im Jahr 2003 und im Jahr 2013 begleitete und unterstützte er die Neuordnungsverfahren zum Kfz-Mechatroniker/zur Kfz-Mechatronikerin.

 

WAP befragt zurzeit eine Reihe von Bildungsexperten in Betrieben, Gewerkschaften und Wissenschaft und bittet um Statements zum Leitbild erweiterte moderne Beruflichkeit.

 

Das Leitbild und die Statements sind im WAP unter folgender Adresse zu finden: https://wap.igmetall.de/leitbild-statements-9280.htm



 

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