Statement Prof. Bülow-Schramm
Statement zum Leitbild "Erweiterte moderne Beruflichkeit"
Die Intention, eine Strategie gegen die Versäulung des deutschen Bildungssystems nicht nur zu entwerfen, sondern auch zu verbreiten und einen Konsens in beiden "Säulen" darüber herzustellen, ist überfällig und vom System der beruflichen Bildung her vielfach angedacht worden (Stichworte Kopenhagen-Prozess oder der Bachelor Professional).
Und auch die Hochschulen sollten sich der Tatsache stellen, dass ihre Absolventen überwiegend Berufe außerhalb des Wissenschaftsbetriebs ergreifen, weil ihr akademischer Hintergrund hier zunehmend gefragt ist.
Von den Hochschulen jedoch werden die Ansätze, stärker in die Berufsvorbereitung eingebunden zu werden, gerade im Zuge der Bologna-Reform kritisch begleitet. Obgleich Employability als eines von 3- 4 Kompetenzzielen in den Bologna-Erklärungen traktiert wird, also nicht allein Geltung beansprucht, entzündet sich daran die Debatte über die Funktion der universitären Bildung und Wissenschaft in Zeiten der Expansion des Hochschulbereichs immer wieder und wird über Definitionen dieses Begriffs beizulegen versucht. Das Leitbild erweiterte moderne Beruflichkeit kann, so ist zu befürchten, als ein weiterer dieser Versuche eingeordnet werden, noch dazu mit dem Anspruch, "Grundstein für eine übergreifende ... Berufsbildungspolitik" (S. 9) zu sein, die auch der Hochschule als Maßstab dienen soll.
Das Kernproblem aber bleibt unberührt: in welchem Verhältnis stehen Generierung und Verwertung von Wissenschaft, was/wer entscheidet über wahr oder unwahr. Wie ist dieses Dilemma oder besser dieser Widerspruch in Studium, Forschung und wissenschaftlichen Weiterbildung vermittelbar, ohne den Spannungsbogen aufzugeben bzw. eine Seite absolut zu setzen, dennoch aber handlungsfähig zu bleiben?
Diese Frage möchte ich an das Leitbild stellen, das die IG Metall nun als vorläufiges Fazit aus langen Diskussionen, Expertisen, Abhandlungen und konfliktreichen Auseinandersetzungen dankenswerterweise vorlegt.
Es ist der allgemeinen Debatte geschuldet, liegt aber auch in der Bestimmung dessen, was unter erweiterter moderner Beruflichkeit im Leitbild verstanden wird, wenn zu befürchten ist, dass das Leitbild Gefahr läuft, als ein weiterer Beitrag dazu wahrgenommen zu werden, die Hochschulen stärker zu Einrichtungen der beruflichen Bildung umzuformen und ihren Charakter als Institutionen der Wissenschaft zu schwächen. (z.B. durch die Hervorhebung der Bedeutung des dualen Studiums, das in vielen, gerade den universitären, Disziplinen nicht anschlussfähig ist - oder nur um den Preis eines weitgehenden Verzichts auf Wissenschaft: Wie sähe ein duales Studium in den Geisteswissenschaften aus, wie in den traditionellen Naturwissenschaften?).
Das hängt damit zusammen, dass das Leitbild keinen klaren Begriff von Wissenschaftlichkeit enthält, der über ein instrumentelles, anwendungsbezogenes Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden hinausgeht. Wissenschafts- und Forschungsorientierung ist aus der Hochschulsicht (in der Hochschule verbinden sich Wissenschaftssystem und Bildungssystem) keine hinreichende Bestimmung dessen, was die Besonderheit eines Hochschul-, insbesondere Universitätsstudiums ausmacht. Wissenschaft und Forschung wirklich zu betreiben, und sei es nur exemplarisch, ist aus dieser Sicht vielmehr der Kern des Studiums.
Der Oberbegriff Beruflichkeit vermag daher nicht, die hochschulische, vom Wissenschaftssystem her gedachte Sicht auf das Studium mit anderen Konzepten von beruflicher Bildung zu integrieren. Zumal der Begriff Beruflichkeit im Leitbild gleichzeitig auch als "Kampfbegriff" zur Abwehr der Erosion überkommener Konzepte in der Berufswelt etabliert und damit zu stark in der traditionellen beruflichen Bildung verortet wird.
Das Leitbild läuft, hier schließt sich ein Bogen zum ersten Argument, Gefahr, in der hochschul- und bildungspolitischen Debatte einer faktischen Zweiteilung des Hochschulsystems in ein wissenschaftliches Studium auf der einen und ein berufsvorbereitendes, an Wissenschaft orientiertes (häufig auch: duales) Studium Vorschub zu leisten, weil es die Integration von Wissenschaft und Beruf nicht leistet. Es bietet daher Ansätze zur (überfälligen) Weiterentwicklung von Studiengängen an stark anwendungsbezogenen Hochschulen oder in stark berufsorientierten Fächern. Es bietet aber Akteuren, die sich als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verstehen, schlicht zu wenig Anschlussmöglichkeiten für ihre (legitime) Vorstellung von Wissenschaftlichkeit.
Im schlimmsten Fall wird das durchaus emanzipatorisch gemeinte Konzept der Beruflichkeit, das hier entwickelt wird, am Ende nur dort einen Beitrag zur Reform des Studiums leisten, wo es recht eigentlich um eine weitere Verschärfung von "employability" geht, denn dass Studierende höhere und umfassende Kompetenzen erwerben und im Beruf eigenständiger agieren können, entspricht ja durchaus den modernen Anforderungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
In den Prinzipien für ein Bildungskonzept wird konkretisiert, in welcher Weise Wissenschaft betreiben einerseits und für Beruflichkeit vorzubereiten andererseits zusammenhängen könnten. Und hier wird besonders deutlich, dass die Berufsinteressen und deren Verortung im Studium gut ausgeleuchtet sind, die Wissenschaftsinteressen aber eher nicht: Wissen und Wissenschaftsorientierung steht hier im Dienst beruflichen Lernens ( Grundsätze 1,2,3,4,8,9,10), forschendes und entdeckendes Lernen befähigt zur Aneignung berufstypischer Wissensbestände und zu deren kritischer Reflexion und Folgenabschätzung (5,6). Über berufliches Lernen wird auch soziales Lernen (die Komplexität der beruflichen Tätigkeit erschließt sich im Lernen von bereits Berufstätigen) und Identitätsbildung, hier konkretisiert als berufliche Identitätsbildung, angestrebt (11). Dies ist eine Verengung der Identitätsbildung und wirkt gerade da nicht überzeugend, wo es um die Entwicklung eines Selbstkonzepts geht, das ein Gegengewicht gegen die erodierenden Formen der Erwerbsarbeit darstellen müsste. Eine umfassend gebildete und entwickelte, gar emanzipierte Persönlichkeit, die sich selbst in ihrem sozialen Kontext denken und diesen aktiv gestalten kann, wäre hier überzeugender.
Um Wissenschaftsorientierung als wissenschaftsorientierte Analyse und Reflexion, um berufliche Praxis durch Wissenschaft zu erklären, geht es in den Prinzipien 12 und 13. Sie greifen ein Manko der Bachelorstudiengänge auf, in denen oftmals versäumt wird, die Theorieentwicklung als die Reflexion von Praxis und umgekehrt darzustellen. Jedoch ist die Beschränkung auf berufliche Praxis auch eine Beschränkung des wissenschaftlichen Anspruchs, Forschung unabhängig von ihren Verwertungsmöglichkeiten zu betreiben.
Es müsste hier stärker betont werden, dass Beruflichkeit eng mit Nützlichkeitserwägungen verwoben ist mit all den drängenden Fragen, denen sich anwendungsbezogene Forschung zu stellen hat: wird die Freiheit, Wissenschaft zu betreiben, dadurch eingeschränkt? Werden so Innovationen, auf die die Gesellschaft zur Bewältigung immer neuer Probleme angewiesen ist, behindert? Bedeutet Fremdfinanzierung der Forschung (und der Lehre) eine geistige Abhängigkeit von den Geldgebern und ihre n Interessen? Erobert sich die Wirtschaft die Gestaltung von Studiengängen zu ihren Zwecken und die inhaltliche Ausrichtung der Lehre durch Stiftungslehrstühle (oder durch duale Studiengänge)? Was müsste das Studium, leisten, um dem zu entgehen?
Darüber die Debatte los zu treten lohnte sich, und erweiterte moderne Beruflichkeit regt die Gedanken hierzu an. D.h. die Debatte um eine gemeinsame Orientierung ist längst nicht zu ende.
Wenn es aber darum geht, wie Kassebaum in seiner Würdigung klar stellt, "dass das System der Ausbildung- und Fortbildung und die Hochschulen ihre Identität behalten" (S. 27), dann geht es um Durchlässigkeit und dann ist es an der Zeit, die Schnittstellen konkret zu benennen, an denen zwischen Lernorten und Denkmustern gewechselt werden muss, um sowohl neue Erkenntnisse hervorzubringen als auch ihre Anwendungsmöglichkeiten praktisch zu entwickeln und theoretisch zu überprüfen.
zur Person:
Margret Bülow-Schramm, Professorin Dr. habil. für Hochschuldidaktik i. R. an der Universität Hamburg - Hamburger Zentrum für universitäres Lehren und Lernen, 2. Vorsitzende der Gesellschaft für Hochschulforschung. Zahlreiche Veröffentlichungen und Leitung von Forschungsprojekten auf den Gebieten Qualitätsmodelle für Lehre und Studium, Hochschul- insbes. Studierendenforschung/Studentisches Lernen, Fachkulturen-, Disziplin- und Curriculumforschung, Organisationsentwicklung und Gleichstellung. Sie hat zahlreiche Forschungsprojekte eingeworben und geleitet. Neben anderen Funktionen ist sie im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), in zentralen Kommissionen der Akkreditierungsagentur ASIIN und arbeitet auch im Gewerkschaftlichen GutachterInnennetzwerk in der AG Weiterentwicklung der Akkreditierung mit.
Weitere Infos siehe: https://www.ew.uni-hamburg.de/ueber-die-fakultaet/personen/buelow-schramm.html
WAP befragt zurzeit eine Reihe von Bildungsexperten in Betrieben, Gewerkschaften und Wissenschaft und bittet um Statements zum Leitbild erweiterte moderne Beruflichkeit.
Das Leitbild und die Statements sind im WAP unter folgender Adresse zu finden: https://wap.igmetall.de/leitbild-statements-9280.htm