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Franz_Kaiser

Statement Prof Kaiser

Statement zum Leitbild "Erweiterte moderne Beruflichkeit"

12.10.2015 Ι Franz Kaiser studierte nach einer Berufsausbildung zum Schreiner mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung Architektur, Theologie und Pädagogik für das Lehramt an beruflichen Schulen in Darmstadt. Anschließend war er an verschiedenen Universitäten und 15 Jahre am BIBB tätig und ist jetzt Professor für Berufspädagogik. Für Franz Kaiser hat das Leitbild eine große Bedeutung, da es geeignet sei, das gesellschaftlich Gespräch über Bildung wieder zu beleben. Insbesondere für die Universitäten werde durch das Leitbild "aufgedeckt", dass sie sich nicht nur um die wissenschaftliche, sondern verstärkt um die berufliche Qualifizierung der Studierenden zu kümmern haben. Unsere spezielle Frage an Franz Kaiser war: "Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der beiden Bildungsbereiche werden seit langem proklamiert. Welche bildungs- und arbeitspolitischen Schritte sind vordringlich, um sie effektiv zu befördern? Kann das Leitbild dazu Impulse geben?"

Generelles zum Leitbild

Das Leitbild der IG-Metall "Erweiterte moderne Beruflichkeit" ist eine hilfreiche Einmischung der Gewerkschaften in die Bildungspolitik, weist über ihren engen Zuständigkeitsbereich hinaus und stellt eine Wiederbelebung des gesellschaftlichen Gesprächs über Bildung dar.

Gerade in Zeiten der Standardisierung von Bildungsprozessen, in denen sich fast alles nur noch um das Addieren von Leistungspunkten im Bildungssystem dreht, ist das Nachdenken darüber, um was es denn eigentlich gehen soll, notwendig. Viel zu wenig befassen sich Akteur_innen im Bildungssystem mit der Auseinandersetzung um die Ziele des Systems und Aufstieg durch Bildung ist selten und Bildungsgerechtigkeit bislang nicht erreicht. Das Leitbild reagiert auf die veränderte Situation der Studierenden, die mittlerweile zu einem Drittel neben dem Studium erwerbstätig sind oder familiären Verpflichtungen nachgehen.

In einer Verbindung von hochschulischer Bildung und dualer Ausbildung unter dem Dach der Beruflichkeit wird etwas aufgedeckt, was Hochschulen und insbesondere Universitäten nicht gerne zur Kenntnis nehmen. Viele Studierende verbinden mit dem Studium eine Vorbereitung auf das anschließende Erwerbsleben und damit den Beruf. Dass es hierbei schon immer Studiengänge gab, die das deutlicher anvisieren (Zahnmedizin, Lehramt) als andere (Germanistik, Biologie, IT), ist bekannt. Gleichwohl kann vielfach von Berufsvorbereitung im Studium kaum die Rede sein. Auch die Übergänge zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung sind zu verbessern.

 

Die Forderung der "Arbeiterbewegung" auf dem Berliner Arbeiterkongress 1848 nach Bildungseinrichtungen, die realistische Bildungsstoffe vermitteln, zielte bereits in eine ähnliche Richtung, verbunden mit der Idee, dass die eigene Verfügung der Arbeiter_innen über nützliche Qualifikationen die Basis für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz schafft. So ist es nur konsequent, wenn sich Gewerkschaften einbringen in die Frage nach den Inhalten und Lerngegenständen sowie -formen auch hochschulischer Bildung und sich nicht beschränken auf die betriebliche Aus- und Weiterbildung.

 

Bei dem Leitbild besonders zu begrüßen sind aus meiner Sicht die Impulse,

·         die auf breite Qualifikationen zielen, so dass zu enge Qualifikationsprofile sowohl in den Bachelorstudiengängen als auch in den Ausbildungen vermieden werden,

·         die Hochschulen und Universitäten dazu bewegen, sich der Realität von Arbeitsprozessen und berufstypischen Aufgaben zuzuwenden,

·         die duale Berufsausbildung als Teil der Persönlichkeitsbildung zu verstehen und damit weit über die Vermittlung nützlicher Fähigkeiten hinauszugehen und Aspekte von Nachhaltigkeit und Selbstreflexivität systematisch zu verankern,

·         Lernende zu befähigen, selbst zu Gestalter_innen ihres Lebens zu werden und damit auch in allen Bildungszusammenhängen zeitliche Freiräume zu schaffen, in denen über eigene Lebensziele und -formen nachgedacht werden kann.

 

Zur Bedeutung von Beruflichkeit

Die gemeinsame Orientierung der Bildung - sei sie hochschulisch oder betrieblich - an Beruflichkeit ergibt sich sinnvoll aus der Rolle der Gewerkschaft, Organisation von Erwerbstätigen zu sein. Damit bildet die Erwerbstätigkeit ihr entscheidendes Gestaltungsfeld und den gemeinsamen Bezugspunkt ihrer Mitglieder. Die auf Erwerbstätigkeit ausgerichtete Bildung liegt dann konsequenterweise auch in der Zuständigkeit der Gewerkschaften. Der Begriff der Beruflichkeit stellt die darauf bezogene Bildung in eine Tradition, die Verantwortung übernimmt. "Ehre" und "Tradition" als unmoderne Begrifflichkeiten schwingen mit im Begriff des Berufs und machen deutlich, dass Beruflichkeit nicht nur die Ansammlung von abrufbaren Fähigkeiten umfasst, sondern auch das Potential zum Widerspruch, wenn Dinge, aus berufsfachlicher Kenntnis heraus betrachtet, nicht in Ordnung sind. Beruflichkeit verpflichtet zur Entwicklung einer übergreifenden gesellschaftlichen Perspektive, die berufliches Handeln verantwortet bezogen auf die Aufgabe, die Gesellschaft mit dem jeweiligen Beruf verbindet. So wird von Ärzt_innen erwartet, dass sie nach Gesundheit trachten und von landwirtschaftlich Beschäftigten nach gesunden Nahrungsmitteln. Von Metaller_innen nach haltbaren Metallwerken und von Logistiker_innen nach effizienten Ablaufgestaltungen. Betriebswirtschaft kann dann zur Lehre der humanen Gestaltung von betrieblichen Kulturen und Arbeitswelten unter Berücksichtigung der Kosten werden. Lebenswelten und Handlungszusammenhänge der Menschen in der Arbeitswelt werden zum Gegenstand der Lernprozesse und nicht nur abstrakte Modellbildungen und Funktionsgleichungen.

Beruflichkeit wird so in Lernprozessen zum Bindeglied zwischen standardisiertem Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten einerseits, die in formalen Qualifikationsprofilen und Studiengängen fixiert sind, und dem Verwirklichungswillen der Lernenden andererseits, die sich mit Hilfe der (beruflichen) Bildung entwickeln und künftig die gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen formen. Beruf wird in einem solchen Verständnis nicht entwertet durch sich verändernde Arbeitsprozesse, in denen berufliches Wissen zur Anwendung kommt und vielleicht eine andere Tätigkeit ausgeübt wird, als die ursprünglich erlernte.

Vielmehr ist Beruflichkeit sinnvolles Leitbild, das aber vielleicht zu viel Interpretationsspielraum lässt. Aus gewerkschaftlicher Perspektive wäre "arbeitnehmerorientierte Bildung" als Leitbild eindeutiger als "moderne Beruflichkeit" für Qualifizierung in Betrieb und Hochschulen. Jene signalisiert, dass es um Ermächtigung der Arbeitnehmer_innen geht, ihre Arbeitsbedingungen zu analysieren und in ihrem Interesse mit zu gestalten. Qualifizierung verweist dann auch auf Interessensunterschiede in der Arbeitswelt und birgt in sich die solidarische Kompetenz zum demokratischen Handeln organisierter Arbeitnehmer_innen, die auch die weltweite Verflechtung von Arbeitsbeziehungen und -bedingungen thematisieren kann.

 

Verbesserungen und Zuspitzungen und die Frage nach der Durchlässigkeit

Die stärkere Konkretisierung des Leitbildes in dem bereits angedeuteten Sinne steht noch aus. Meint Beruflichkeit auch die Befähigung zum Widerspruch, zur Organisation der Interessen, zur Umsetzung demokratischer Mitbestimmungsstrukturen in Arbeitskontexten? Oder ist Beruflichkeit "nur" die Verbindung von Theorie und Praxis, die sich an den bestehenden Arbeits- und Geschäftsprozessen orientiert, unabhängig von deren gesellschaftlichem oder auch wirtschaftlichem Sinn?

Bildung wurde in der gewerkschaftlichen Tradition immer auch als Moment der Befreiung gedacht, als Potential, über bestehendes hinaus zu denken und die Fähigkeiten zu entwickeln, entsprechend zu handeln. Da greift das Leitbild noch zu kurz, bedarf der Konkretisierung - auch auf die Gefahr hin, sich in Widersprüche zu bestehenden Interessen zu begeben und damit unbequem zu sein. Zu allgemein verbleiben die Formulierungen im jetzigen Leitbild und erzeugen nur wenig Widerspruch zu marktwirtschaftlichen Verwertungsinteressen.

 

Für solche und ähnliche Diskussionen bietet das Leitbild Anstöße ebenso wie zur Verbindung bislang getrennter Bildungsbereiche. Die notwendigen nächsten Schritte sind neben der inhaltlichen Debatte um die Konkretisierung von Lernfeldern an Hochschulen und der Frage, an welchen Kategorien man sie ausrichtet, auch die Ausgestaltung der gegenseitigen Anerkennung. Da sind formal erste Schritte gemacht, wenn in Fortbildungsberufen einschlägige Studienanteile hochschulischer Bildung angerechnet werden. Aber die Externenprüfung bei den Kammern und verkürzte Ausbildungsmodelle für Studierte sind sicherlich noch entwicklungsfähig. Umgekehrt steckt die Anerkennung von Qualifikationen aus Aus- und Weiterbildungsberufen im Hinblick auf Studiengänge  noch in den Kinderschuhen. Das erfordert neue Formen der Prüfungen in den Hochschulen, die über die Anerkennung von Leistungspunkten aus akademischen Studiengängen hinausgehen und ggf. auch eine andere Form der Partizipation gesellschaftlicher Gruppen an der Entwicklung von Studiengängen und Prüfungsformen.

Dabei darf nicht die unterschiedliche Zuständigkeit von Bund und Land, Wirtschafts- und Kultusministerien sowie die Bedeutung von Freiheit in Forschung und Lehre in unserer Republik verkannt werden. Die Entwicklung von dualen Studiengängen und berufsbegleitenden hochschulischen Angeboten sind deutliche Anzeichen für das Aufbrechen der bisherigen Trennung von Bildungswelten. Sie dürfen aber nicht zu einer kruden Praxisorientierung akademischer Bildungsangebote werden, die lediglich auf gestiegene Anforderungen der Arbeitswelt reagiert. Vielmehr müssen sie die wissenschaftliche Durchdringung vorfindlicher Praxis gewährleisten. Nur dann wird deutlich, dass unterschiedliche Formen des Lernens praktiziert werden und damit verbunden anderes Wissen vermittelt wird. Das hat auch seine Berechtigung, weil Lernorte unterschiedliche Vorzüge haben, die systematisch zu nutzen sind. Hochschulen können im Hinblick auf das Lernen am Arbeitsplatz und auf die systematische Entwicklung von Qualifikationsprofilen eine Menge aus der dualen Ausbildung lernen. Umgekehrt haben Hochschulen und Universitäten einen bedeutenden Vorsprung in der Vermittlung systematisierter Wissensbestände und der Verbindung von Lernen und Forschen. Sollen sich die beiden Sphären aufeinander zu bewegen, so sind nicht zuletzt auch Fremdsprachen sowie die zunehmende Bedeutung von Internationalisierung wichtige Themen. Jedoch tun sich viele Betriebe in Deutschland noch sehr schwer, wenn es darum geht, auch Fremdsprachenkompetenz in der Ausbildung zu vermitteln, ganz zu schweigen von den Bildungsangeboten der Kammern in der Aufstiegsfortbildung, in denen Fremdsprachen nahezu keine Rolle spielen.

Es gibt also noch viel zu tun auf dem Weg zu einer erweiterten Beruflichkeit im Sinne einer arbeitnehmerorientierten Bildung.


Hinweise zum Autor:

 

Dr. Franz Kaiser ist seit 2014 Professor für Berufspädagogik an der Universität Rostock. Er studierte nach einer Berufsausbildung zum Schreiner mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung Architektur, Theologie und Pädagogik für das Lehramt an beruflichen Schulen in Darmstadt. Anschließend war er an verschiedenen Universitäten und 15 Jahre am BIBB tätig, unter anderem im Ordnungsbereich. Er hat drei Kinder, ein Enkelkind und lebt mit seiner Frau in Rostock.

 

WAP befragt zurzeit eine Reihe von Bildungsexperten in Betrieben, Gewerkschaften und Wissenschaft und bittet um Statements zum Leitbild erweiterte moderne Beruflichkeit.

 

Das Leitbild und die Statements sind im WAP unter folgender Adresse zu finden: https://wap.igmetall.de/leitbild-statements-9280.htm

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