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Statement Prof Schinke

Diskussionsbeitrag zum Leitbild "Erweiterte moderne Beruflichkeit aus Hochschulsicht"

01.10.2015 Ι Prof. Dr.-Ing. Bernd Schinke ist Vorsitzender der Konferenz der Fachbereichstage (KFBT). Die KFBT hat in den letzten Monaten wiederholt zu der Frage der beruflich-fachlichen Ausrichtung von Studiengängen, insbesondere in den Ingenieurwissenschaften, Stellung genommen. Prof. Schinke wurde gebeten, als Repräsentant der Fachhochschulen eine Einschätzung des Leitbildes vorzunehmen. Die konkreten Fragen waren, ob die beschriebenen Qualitätsdimensionen auch Anregung für die Gestaltung von Studiengängen geben könnten und wo mögliche Defizite und Lücken in der Argumentation gesehen werden. In der Stellungnahme wird das Leitbild auf die Lehrpraxis der Fachhochschulen bezogen. Prof. Schinke nimmt dabei konkret auf die einzelnen Qualitätsdimensionen des Leitbilds Bezug. Dort sieht er große Übereinstimmungen. Auf der bildungspolitischen Ebene sieht Prof. Schinke die Notwendigkeit der "gesellschaftlichen Anerkennung auf Augenhöhe" zwischen der beruflichen Bildung und der Hochschule, die allerdings längst nicht realisiert ist, andererseits wird eine größere Annäherung der beiden Bildungssysteme mit Skepsis gesehen. Sie "wird die Konkurrenz im Beruf erhöhen und vermutlich den Akademisierungsgrad verstärken."
Die Industriegewerkschaft Metalle (IGM) stellt in ihrem Bildungskonzept "Erweiterte moderne Beruflichkeit" für die betrieblich-duale und die hochschulische Berufsbildung 15 Forderungen an die Bildung. In weiten Bereichen decken sich die Zielvorstellungen der IGM mit denen der Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW). Sie sind aber so allgemein gehalten, dass eine vergleichende Umsetzung in den verschiedenen Bildungsbereichen diskutiert werden sollte.       
Wie von der IGM gefordert (1), vermittelt ein HAW-Studium eine fachlich breite Qualifikation. "Zersplitterte" Studiengänge sollten lt. IGM zusammengeführt werden. Im Hochschulbereich ist zu beachten, dass gerade spezialisierte Studiengänge im Life Science-Bereich von Bewerbern stark nachgefragt werden. Auch einige Betriebe nutzen - wie IGM erkennt - die Vielfalt. Unsere Gesellschaft stimmt dieser Forderung (1) nach fachlich breiter Qualifikation also nur begrenzt zu. Einige Hochschulen folgen diesem gesellschaftlichen Trend deshalb mit Spezialstudiengängen.        
Wie der Name Hochschulen für angewandte Wissenschaften widerspiegelt, lehrt ein HAW-Studium auch anwendungsorientierte Handlungsfähigkeit und ermöglicht praktische Erfahrung (IGM-Forderung (2)). Das heißt nicht, dass das Studium nur die enge Berufstätigkeit im Auge hat, sondern es vermittelt Zusammenhänge und regt an, soziale und ökologische Folgen zu reflektieren. Dass die Praxis durch Wissenschaft erklärt wird (IGM (12/13)) ist im Studium selbstverständlich. Dabei spielt in den an den HAW stark vertretenen MINT- und Betriebswissenschaften die meist mathematische Modellierung der Praxis eine zentrale Rolle. Das ist ein Unterschied zur beruflichen Bildung.      
Problemorientiertes Lernen in berufstypischen Projekten (IGM (3)) ist an HAW weit verbreitet und oft curricular verankert. Die breite fachliche Qualifikation setzt der Projektarbeit an berufstypischen Entwicklungsaufgaben (IGM-Forderung (4)) allerdings Grenzen. In den meisten Modulen muss sich die HAW mit kleinen Beispielen begnügen. Das geforderte breite Fähigkeitsprofil steht also in Konkurrenz zur zeitaufwendigen Projektarbeit.      
Entdeckendes, forschendes Lernen (IGM-Forderung (5)) ist Kern eines Hochschulstudiums und sicherlich anders als bei der beruflichen Bildung. Eine Forderung, forschendes Lernen stärker in die berufliche Bildung zu integrieren, entspräche einer Annäherung an die akademische Bildung.      
Lernen ist bei allen Bildungswegen Persönlichkeitsentwicklung (IGM (6)) und soziales Lernen (IGM (7)). Bei HAW-Studiengängen steht allerdings die Fachlichkeit im Vordergrund. Viele Fachdisziplinen akzeptieren, dass etliche Kompetenzen erst im Berufsleben entwickelt werden. Das Studium legt dafür die methodische Basis. Deshalb werden das soziale Gefüge der beruflichen Tätigkeit sowie die genauen eigenen Arbeitsbedingungen mit Arbeitsverträgen etc. (IGM Forderung (10)) im Studium selten behandelt, sondern zum späteren beruflichen Lernzyklus gerechnet. An HAW werden die Anfänge dieser Lernphase allerdings oft bei Industriepraktika und externen Abschlussarbeiten durch die HAW begleitet. Duale Studiengänge verknüpfen diese zwei Lernorte noch intensiver. D. h., die IGM-Forderungen (11) nach Entwicklung der Identität und (14) nach unterschiedlichen Lernorten werden bei HAW-Studiengängen gelebt - traditionell erfolgreich konsekutiv Studium/Industriepraktikum/Abschlussprojekt/Berufstätigkeit oder parallel in Dualen Studiengängen. Zur Inklusion (IGM-Forderung (15)) spielen die HAW als klassische Aufsteiger-Hochschulen auch für Studierende mit Migrationshintergrund und für Ausländer eine bedeutende Rolle. Die Ausweitung auf weitere Gruppen ist absehbar. Das Bildungskonzept erweiterte Beruflichkeit ist so allgemein gehalten, dass es sowohl auf akademische wie auf berufliche Bildung anwendbar ist. Die vorhandenen Unterschiede treten dabei allerdings kaum zutage. Ob forschendes Lernen und wissenschaftlich orientierte Analyse und Reflexion in der beruflichen Bildung tiefgreifend erforderlich sind und ob Projekte mit beruflicher Aufgabenstellung bei allen akademischen Bildungswegen sinnvoll sind, sollte kritisch hinterfragt werden.     Neben den 15 Forderungen an die Bildung gibt es weitere politische Forderungen:   Der IGM ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit im Bildungs- und Beschäftigungssystem wichtig. Das ist nachvollziehbar: Unser Wohlstand in Deutschland wurde maßgeblich von unseren Fachkräften geschaffen. Dabei hat sich die sinnvoll ergänzende Zusammenarbeit der beruflichen und akademisch gebildeten Spezialisten hervorragend bewährt. Die gesellschaftliche Anerkennung auf Augenhöhe gilt deshalb beiden Bildungsgruppen, so wie es der DQR widerspiegelt. Das ist allerdings keine gesellschaftliche Realität. In verwandten Arbeitsgebieten sind die Karrieremöglichkeiten für akademisch Gebildete besser als für beruflich Gebildete. Junge Menschen streben zunehmend ein Studium an, weil sie sich davon berufliche Vorteile versprechen. Damit steht die bewährte ergänzende Zusammenarbeit der beiden Bildungsgruppen auf dem Spiel.
Eine Annäherung der Bildungssysteme - mehr Wissenschaftlichkeit in der beruflichen oder mehr Praxisorientierung in der akademischen Bildung; auch mehr Duale Studiengänge - wird die Konkurrenz im Beruf erhöhen und vermutlich den Akademisierungstrend verstärken.
Abhilfe sehe ich eher dann, wenn qualifizierten Absolventen der beruflichen Bildung auch ohne Studium innerbetriebliche Aufstiegswege offen stehen. Dazu fordert die IGM sinnvoll Laufbahnberatung- und -gestaltung sowie bessere betriebliche Bildungskonzepte und berufliche Weiterbildung. Wenn aber alle "Besten" der beruflichen Bildung studieren, ist der Akademisierungstrend vorgegeben.

 

Zur Person:

 

Prof. Dr.-Ing. Bernd Schinke studierte Maschinenbau an den Technischen Universitäten Clausthal und Braunschweig und promovierte an der Universität Karlsruhe. Nach seiner Industrietätigkeit als Projektingenieur war er erst Gruppen-, dann Abteilungsleiter am Forschungszentrum Karlsruhe (jetzt KIT). Seit 1993 ist er Professor an der Hochschule Mannheim in der Fakultät für Verfahrens- und Chemietechnik. Dem Fachbereichstag Verfahrenstechnik gehört er unterbrochen seit 2000 an und war 2008 bis 2014 dessen Vorsitzender. 2011 übernahm er den Vorsitz der Dachorganisation der Fachbereichstage, der Konferenz der Fachbereichstage. Weiterhin ist er im Hochschulrat der Hochschule Mannheim und in mehreren Berufs- oder Standesverbänden regional, landes- oder bundesweit ehrenamtlich tätig.

 

WAP befragt zurzeit eine Reihe von Bildungsexperten in Betrieben, Gewerkschaften und Wissenschaft und bittet um Statements zum Leitbild erweiterte moderne Beruflichkeit.

 

Das Leitbild und die Statements sind im WAP unter folgender Adresse zu finden: https://wap.igmetall.de/leitbild-statements-9280.htm

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