Streit um Wirtschaft in der Schule
Skandal - Arbeitgeber machen Druck auf Bundeszentrale für politische Bildung
In zwei Schritten wird WAP sich mit diesem Vorgang befassen. Heute werden die Hintergründe dargestellt, soweit sie sich für Außenstehende erschließen. In wenigen Tagen wird ein Interview mit Bettina Zurstrassen folgen, in dem sie die Einflussnahme der Wirtschaft auf den Unterricht in der Schule darstellen wird.
Was ist geschehen?
Es geht um einen Sammelband in der Reihe "Themen und Materialien" der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Der Band heißt "Ökonomie und Gesellschaft" und enthält zwölf von unterschiedlichen Autoren geschriebene "Bausteine für die schulische und außerschulische politische Bildung" Der Band wurde von der bpb in Auftrag gegeben und im Februar 2015 veröffentlicht.
Am 5. Juni 2015 bat Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), in einem Schreiben die bpb dringend darum, das Buch nicht weiter zu vertreiben. Die Publikation enthalte, so Clever, "ideologische" und "voreingenommene Anschuldigungen" hinsichtlich der Öffnung von Schulen für Unternehmen und des zunehmenden Lobbyismus an Schulen.
Als Beleg führt Peter Clever verschiedene Passagen aus dem Band an, die er nachweislich verkürzt zitiert. Teilweise werden sogar Zeitungsartikel, die als Quellendokumente enthalten sind, als Aussage der Autoren ausgewiesen. Das Bundesinnenministerium als vorgesetzte Behörde der bpb hat umgehend und ohne Prüfung der Vorwürfe ein Vertriebsverbot ausgesprochen. Zuerst wurde der Band komplett aus dem Angebot der bpb genommen, später wieder aufgenommen, aber seitdem erscheint auf der Homepage der bpb der Button "vergriffen". Auch im Buchhandel ist er nicht mehr erhältlich. Zeitgleich wurde der wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale gebeten, sich des Vorgangs anzunehmen. Die Ergebnisse dieser Beratungen sind noch nicht bekannt.
Die Angelegenheit hat zwei Dimensionen. Erstens ist sie ein selten in dieser Offenheit zu beobachtender Fall von Lobbyismus. Zweitens zeigt sich hieran, in welcher Schärfe mittlerweile entlang des Faches Wirtschaft und der Inhalte von sozioökonomischer Bildung "um die Köpfe der SchülerInnen gerungen wird". Eines ist klar: Schule hat eine wichtige Bildungs- und Sozialisationsfunktion. Dabei sind nicht unwichtig, welche Theorien zur Erklärung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zusammenhänge herangezogen, ob Kontroversen sichtbar und SchülerInnen zu eigenem Urteil befähigt werden.
Heute wird an Schulen oft ein sehr einseitiger und an den Modellen der Betriebswirtschaftslehre ausgerichteter Wirtschaftsunterricht erteilt. Das Leitbild ist der "homo oeconomicus", der wirtschaftsrational und nutzenorientiert handelnde egoistische Mensch. Vertreterinnen und Vertreter der sozioökonomischen Bildung kritisieren diesen Ansatz. Mit ihm lassen sich soziale und gesellschaftliche, selbst wirtschaftliche Zusammenhänge nicht umfassend erklären. Sie taugen nur bedingt als gesellschaftliches Orientierungswissen für junge Menschen. Deshalb müssten auch alternative wirtschaftstheoretische Ansätze im Unterricht aufgegriffen werden. Das geschieht nur unzureichend.
Für IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban ist klar: "In Wirtschaft und Gesellschaft gibt es nun mal unterschiedliche Interessen. Ökonomische Zusammenhänge werden auch in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert. Das kann man nicht verschweigen. Schülerinnen und Schüler müssen dazu befähigt werden, sich mit differenzierten Interessen und unterschiedlichen ökonomischen Theorien auseinandersetzen."
Der inzwischen nicht mehr vertriebene Band setzt an dieser Debatte an. Bettina Zurstrassen, die den Band bearbeitet hat, schreibt im Einleitungsbeitrag dazu: "Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise(n) seit 2007 wird intensiv über das Erklärungspotenzial der Wirtschaftswissenschaften nachgedacht. Kritisch hinterfragt wird, ob und inwieweit die inzwischen hochspezialisierten mathematisch ausgerichteten Wissenschaften die sozialen Hintergründe der ökonomischen Entwicklung adäquat zu erfassen, zu erklären und sogar zu prognostizieren vermögen. Zumindest heterodoxe Ökonominnen und Ökonomen kritisieren den mangelnden paradigmatischen und forschungsmethodischen Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften."
Über dieses Problem wird in der Volkswirtschaftslehre mittlerweile intensiv diskutiert.
Zurstrassen stellt daher die Frage: "Welche Relevanz hat diese (selbst-)kritische Reflexion der Wirtschaftswissenschaften für schulische Unterrichts- und Lehr-/Lernprozesse über soziale Wirklichkeiten der ökonomischen Entwicklung? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für eine politisch-ökonomische bzw. sozioökonomische Bildung, die die Forderungen nach Mehrperspektivität und wirtschaftstheoretischem und forschungsmethodischem Pluralismus im Unterricht zu berücksichtigen versucht?"
Vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund und ausgehend von den oben formulierten Fragen war es die Zielsetzung des Bandes, Unterrichtsbausteine anzubieten, die Lehrkräfte und Dozenten unterstützen sollen, den Lernenden eine ganzheitliche Perspektive auf gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Probleme sowie auf ökonomisch geprägte Lebenssituationen zu eröffnen. In dem Band werden von einigen Autorinnen und Autoren auch kritische Perspektiven auf Wirtschaft dargestellt. Andere Autoren, wie Birgit Weber, verfolgen in ihrem Beitrag dagegen das Ziel, "die pauschalen Verurteilungen des Wirtschaftens, der Wirtschaftsordnung sowie der Wirtschaftswissenschaft zu relativieren (.)" und dennoch auch ihre Grenzen deutlich zu machen.
Inzwischen hat der Konflikt weitere Dimensionen. Es ist zu vernehmen, dass das Innenministerium als der bpb übergeordnete Behörde das Konzept der sozioökonomischen Bildung grundsätzlich infrage stellt und seine Verbreitung durch die bpb ablehnt. Soll so eine kritische politisch-ökonomische Bildung verboten werden? Sollen Schülerinnen und Schüler nicht mehr die Fähigkeit erwerben, wirtschaftspolitische Entwicklungen kritisch hinterfragen zu können?
Diese Argumente sind frag- und kritikwürdig. Die Bundeszentrale muss auch weiterhin einem pluralistischen Wissenschaftsverständnis verpflichtet bleiben und auch Kontroversen zwischen verschiedenen Wissenschaften abbilden. Der Band muss wieder vertrieben werden, die Nachfrage ist groß. "Es darf nicht sein", so Hans-Jürgen Urban, "dass Arbeitgeberverbände mit ihrer Lobbymacht unbequeme wirtschaftliche Theorien aus schulischer Bildung, Lehrerfortbildung und Unterrichtsmaterialien verbannen."
Die Debatte um die Deutungsmächtigkeit der verschiedenen Wissenschaften muss dringend geführt werden. Bezogen auf die allgemeinbildenden und berufsbildenden? Schulen und ihren Bildungsauftrag hat der DGB mit seinen Mitgliedsgewerkschaften 2012 einen Beschluss herbeigeführt, der sich eindeutig für einen sozioökonomischen Ansatz ausspricht, weil dieser am ehesten den Anforderungen des Beutelsbacher Konsenses gerecht werden kann (siehe Anlage).
Die zensierte Ausgabe gibt es hier:
https://wap.igmetall.de/wirtschaft-und-gesellschaft-10969.htm