Siemens wichtigstes Projekt in der Ausbildung
"Wir lernen hier Industrie 4.0"
"Wir lernen hier Industrie 4.0", sagt Tobias Schuster selbstbewusst und voller Stolz. Sein Blick schweift über verbaute Rohre und Bildschirme. An der langen Stirnwand sind die ersten komplett montierten Bauteile zu erkennen. Die Auffangwanne fehlt noch. Eine Azubi-Gruppe sitzt im Nebenraum am PC und ist mit der Konstruktion einer Schlittenbox beschäftigt. Das alles wird in den nächsten Wochen zu einer automatisierten Anlage zusammengefügt. Natürlich komplett vernetzt, eben das was Industrie 4.0 ausmacht. "Wir verbauen Sensoren, die Werkstück erkennen und die Daten weitergeben an den zentralen Rechner. Es ist alles da, was wir für die Vernetzung brauchen" berichtet Schuster, angehender Mechatroniker im zweiten Ausbildungsjahr. Vernetzung, das ist das Zauberwort von Ausbildung 4.0, der Kern der neuen Herausforderung.
"In der Automatisierungsanlage mit dem komplexen Förder- und Sortiersystem, ist der Gesamtprozess dargestellt. Vom SAP gesteuerten Auftragseingang, über die Herstellung, den Transport, bis hin zur Auslieferung und zur Rechnungslegung", ergänzt Lars Wißmann, Leiter der Ausbildung bei Siemens am Standort Berlin. In der Digitalisierungswerkstatt wird die Technologie ausprobiert, die auch in der Fabrik zum Einsatz kommt. "Wir haben hier die Arbeitsplätze der Industrie 4.0".
Tobias Schuster (rechts im Bild) mit zwei weiteren Azubis aus seiner Lerngruppe: "Es ist alles da, was wir für die Vernetzung brauchen."
Die Bildungsmannschaft des Siemens-Konzerns beschäftigt sich seit 2014 in einem bundesweit angelegten Strategieprojekt mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Ausbildung. Das sechsköpfige Team, bestehend aus Portfolio-Managern, Trainern und Ausbildern, kam aus unterschiedlichen Siemens-Standorten und hat parallel zum Tagesgeschäft für das Projekt gearbeitet. So umfassend und konsequent hat sich die SPE noch nie zuvor mit Veränderungen in der Industrie auseinandergesetzt. Mittendrin war auch Erik Mathias Engwer vom Standort Berlin. Für den Teamleiter für Elektrotechnik eine spannende Zeit. Auch weil der Bildungsexperte aus Berlin auf die Expertise vieler Siemens-Mitarbeiter zugreifen konnte, einschließlich der des Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser.
Es sind erste Antworten für die Aus- und Weiterbildung, die Siemens gefunden hat. "Wir haben 25 Bildungs-Gaps für die Digitalisierung identifiziert zum Beispiel Cloud Computing, Machine-to-Machine-Communication, Netzwerktechnik, Identifikationssysteme, Sensorik, Robotik, Embedded Systems und generell mehr Business-Qualifikationen", erläutert Thomas Leubner, SPE-Bildungschef in München. (siehe auch Seite 8) Weitere werden folgen. Denn: Arbeiten 4.0 verändert Technik im Betrieb ziemlich radikal und die Vernetzung der Systeme schafft eine andere Qualität von Arbeit. 4.0-Systeme erzeugen spannende Aufgaben. Und: Arbeiten und Lernen sind auf einmal ganz anders als bisher aufeinander bezogen. Aber wie das Ende der Fahnenstage aussieht, das weiß im Moment auch bei Siemens noch niemand. Aber die jungen Leute, die jetzt Digitalisierung lernen, die packen begeistert die neuen Herausforderungen an.
Sind die Schulabgänger, die SPE in Berlin ausbildet, auf die digitalisierte Arbeitswelt vorbereitet? Schließlich sind sie allesamt Digital Natives - aufgewachsen mit Internet und Smartphone. Grundlagen seien vorhanden berichtet Teamleiter Engwer. Aber bei vielen Kompetenzen hapert es noch. "Selbstmanagement, Teamfähigkeit, Lernmanagement, Konfliktfähigkeit daran mangelt es. Grundlagen reichen einfach nicht, um sich bei Industrie 4.0 zurecht zu finden." Aber eins ist sicher: Digitalisierung macht neugierig. "Welcher Jugendlicher findet schon Hochspannungsschalter cool?" fragt Wißmann. Bei Industrie 4.0 ist das anders. "Das ist viel spannender als einen Würfel zu feilen."
SPE-Ausbildungsleiter Lars Wißmann (links) und Teamleiter Erik Mathias Engwer: "Welcher Jugendlicher findet schon Hochspannungsschalter cool?"
Ganz wichtig für Siemens ist die Sicherheit von Daten und Informationen (Digitalisierungs-Baustein: Informationssicherheit/Datenschutz und Security). Deshalb starten die neuen Azubis gleich in der ersten Woche mit diese Sequenz: Wie gehe ich mit Daten um? Wie sichere ich Wissen? Wie gehe ich mit sozialen Medien im Arbeitsleben um? "Die Digital Natives müssen einfach wissen, dass WhatsApp ist keine geeignete Plattform für ein Industrieunternehmen ist", sagt Ausbildungsleiter Wißmann.
Die Lerngruppe drei, dessen Leiter Tobias Schuster ist, plant, konstruiert und fertig erst seit zwei Tagen am Projekt, der verketteten Transportanlage. Vier Wochen sind dafür insgesamt vorgesehen. Wißmann: "Wir machen keine gesonderte Schulungen zur Digitalisierung, zu Aufgaben wie 3D-Druck oder additiv Manufacturing. Wir integrieren die Themen in unsere Projekte. Ausprobieren, auch mal was falsch machen. All das ist ein Zugewinn, dahinter steckt der größere Lerneffekt."
Vielleicht hat der Ausbildungsleiter damit den "Spirit der Bildung" an der Nonnendammallee 104 in Berlin beschrieben: Die SPE setzt auf Selbständigkeit beim Lernenden. Die Jugendlichen arbeiten an Projekt-Themen, für die sie keine Aufgabenbeschreibung oder Anleitungen bekommen. Sie sehen ein Problem und müssen dafür eine Lösung finden. "Die Lernenden bestimmen was sie bauen", sagt Wißmann. Ihren gefundenen Weg müssen sie allerdings begründen. Zeigen, dass er sich rechnet und natürlich muss er praxistauglich sein. Diese Art zu lernen erfordert eine offene Feedbackkultur. Und die ist da. In dieser Herangehensweise werden genau die Kompetenzen geschult, die Industrie 4.0 von den Beschäftigten verlangt. Insoweit ist die SPE ziemlich gut unterwegs.
Es ist aber noch etwas, das die SPE-Berlin auszeichnet: das innovative Personal. Die 70 Ausbilder und Lehrer im Ausbildungszentrum sowie die über 100 Ausbildungsbeauftragten in den Betrieben, sie leben das Ausbildungskonzept der Selbständigkeit. "Das ist einfach ein tolles Team, das sich durch einen hohen Grad an Kreativität auszeichnet", erklärt der Chef der Berliner Ausbildung. Wer Bildungspersonal hat, das zum Azubi sagt, verstehe ich selbst noch nicht, weiß ich nicht, lass uns mal gemeinsam eine Lösung suchen, der muss "Freiraum und Vertrauensvorsprung einräumen. Und genau das machen wir", ergänzt Ausbilder Engwer.
In der Digitalisierungswerkstatt kommt inzwischen Hektik auf. Unerwartet kompliziert ist die Aufgabe, eine Dokumentation zu erstellen. Azubi Schuster: "Wir haben das Projekt von der Vorgängergruppe übernommen. Da haben wir konkret gesehen, wie wichtig eine gute Dokumentation ist". Auch die Ideensammlung für die geforderten Lösungen ist nicht mal ebenso zu machen. "Jeder Azubi kann seine Vorstellungen einbringen. Die müssen wir dann in der Gruppe besprechen und ausdiskutieren. Das kostet viel Zeit, aber es funktioniert."
Ausbildung bei der SPE in Berlin: Freiraum und Vertrauensvorsprung für Ausbilder und Azubis
Spätestens dann kommt auch der Ausbilder ins Spiel. Natürlich braucht die Gruppe den Ausbilder, auch bei Industrie 4.0. Denn es gilt viele Fragen zu klären: Was wird konkret angepackt? Ist die gefundene Idee ausgereift? Ist die Machbarkeit gegeben? Das sind Punkte für das Fachgespräch mit dem Ausbilder. Aber im ersten Schritt sind die Azubis gefordert. Schuster: "Natürlich haben wir eine Projektstruktur und einen Ablaufplan erstellt. Wir aktualisieren jeden Tag den Stand unserer Arbeiten. Jeden Morgen machen wir ein Meeting mit der Lerngruppe, in dem wir mit dem Ausbilder besprechen, was gemacht und geschafft werden soll. Wir reden auch über das, was gestern schief gelaufen ist und wie es weitergehen soll."
Ringo Rausch, Ausbilder für die Elektrotechnik, berichtet, dass es "richtig anspruchsvoll" ist, mehrere Gruppen mit unterschiedliche Arbeitspaketen gleichzeitig zu betreuen. Es kommen immer neue Probleme auf den Tisch. "Wir müssen zusammen mit den Azubis Lösungen finden." Aber die gehen oft ihren eigenen Weg, manchmal drehen sie auch noch eine Schleife. "Dann versuchen wir sie wieder in die richtige Spur zu bringen", sagt Rausch, der vor seinem Ingenieurstudium selbst eine Lehre als Energieelektroniker absolviert hat.
Die Ausbildung im Ausbildungszentrum ist unterteilt in Wochen-Sequenzen, die sich zu Modulen zusammenfügen. In einem Ausbildungsjahr sind mehrere Module zu absolvieren. Anwenden müssen die Azubis ihr Wissen unmittelbar in Projekten: am Kompressor im ersten Lehrjahr (Pneumatik, Mechanik, Elektronik) und der Zahnradsortieranlage im zweiten Jahr. Da steht Programmieren im Mittelpunkt "und zwar so lange, bis die Anlage auch wirklich funktioniert", erklärt Engwer vieldeutig.
Wichtig ist, Begeisterung bei den Jugendlichen zu entfachen. Und genau das schaffen die Berliner Ausbilder: "Wenn im Abschlussprojekt die Azubis fragen, ob sie nicht eine Stunde länger machen können, weil sie sonst ihre selbstgesetzten Ziele nicht schaffen, dann haben wir gewonnen", berichtet Wißmann. Und er fügt hinzu: "Dann ist der Ausbilder wirklich Coach und nicht mehr Antreiber." Als Coach begleiten die Siemens-Bildungsprofis den Lernprozess 4.0, für den sie den notwendigen Raum geschaffen haben. Natürlich erfüllen sie die Inhalte, wie sie in der Ausbildungsordnung niedergeschrieben sind, zu vermitteln. Genug Spielraum für neue Inhalte haben sie dennoch und die Lernformen sind allemal nicht vorgeschrieben. "In Summe kommt eine Menge dabei rum: für den Azubi und für das Unternehmen."
Eine Zahl belegt, warum Ausbildung so radikal anders und modern sein muss: 83 Prozent der Produkte bei Siemens sind jünger als fünf Jahre. Das hat Konsequenzen: Im Moment der Auswahl eines neuen Azubis "wissen wir noch gar nicht, für welche Aufgaben wir den Jugendlichen konkret ausbilden. Die Produkte gibt es jedenfalls noch nicht. Das ist wirklich eine Herausforderung", erklärt Ausbildungsleiter Wißmann.
Aber es ist zu schaffen, mit all den Unwägbarkeiten umzugehen. Und: Die digitalisiert Fabrik hilft dabei. Digitalisierung ist eine fast schon unerwartete Chance für Industriearbeit. Jetzt dabei zu sein ist eine faszinierende Aufgabe, die den Nachwuchs jedenfalls begeistert. Wenn Azubi Schuster in die Zukunft schaut, dann hat er die vernetzte Fabrik vor Augen. "Das ist der nächste Schritt. Wenn wir fertigt sind, dann ist das schon Standard. Gut ist, dass wir in der Ausbildung jetzt schon daran teilhaben können."
Lars Wißmann (Bild links): Leiter kaufmännische- und technische Bildung der Siemens Professional Education (SPE) in Berlin. Er ist seit über 25 Jahren in der Ausbildung tätig und sagt: "Ich habe den schönsten Job in der Industrie. Ich bin ständig mit aktuellen Themen beschäftigt, arbeite mit Menschen und entwickele mich selbst ständig weiter."
Erik Mathias Engwer (Bild rechts): Leiter des Bereichs Elektrotechnik bei der Siemens Professional Education (SPE) in Berlin. Mitglied der Projektgruppe: Auswirkungen der Digitalisierung auf die Ausbildung. Sichtbares Ergebnis: Das Projekt hat eine Datenbank zur digitalen Ausbildungsthemen aufgebaut.